Der Fall
meine eigenen Fälle kümmern.«
»Ich weiß – und ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für Ihre Hilfe«, sagte Sara auf dem Weg zur Tür. »Bis morgen also.«
»Moment«, sagte Moore. »Laufen Sie noch nicht weg! Was ist so wichtig, dass Sie so plötzlich weg müssen?«
»Ich habe eine Verabredung mit meiner kleinen Schwester.«
»Sie haben eine Schwester?«
»Keine richtige«, antwortete Sara. »Ich arbeite ehrenamtlich beim Big-Sisters-Projekt mit.«
»Tatsächlich?« Moore sah sie erstaunt an. »Und was machen Sie an den Wochenenden? Blut spenden oder Obdachlose betreuen?«
»Sehr originell«, sagte Sara sarkastisch.
»Wie lange machen Sie das schon?«
»Ich habe etwa einen Monat nach meiner Entlassung in der Kanzlei damit angefangen. So lange hat es ungefähr gedauert, bis ich es satt hatte, zu Hause rumzusitzen und zu warten, dass das Telefon klingelt. Ich dachte, es wäre besser für meine Psyche, als für diese zusätzlichen Sitzungen beim Therapeuten zu bezahlen – ganz zu schweigen davon, dass es wesentlich mehr Spaß macht.«
»Also, ich finde das gut«, sagte Guff. »Schön für Sie.«
»Danke für die Bestätigung«, sagte Sara. »Aber jetzt muss ich wirklich los, auch wenn ich Sie beide zu gern für dieses Projekt gewinnen würde.«
»Noch eine letzte Bitte«, sagte Moore. »Wenn Sie heute Abend nach Hause kommen, sprechen Sie mit Ihrem Mann über Ihre Zeugen. Morgen früh müssen wir unbedingt herauszubekommen versuchen, was da eigentlich gespielt wird.«
»Mache ich«, sagte Sara und hetzte nach draußen.
Zwanzig nach drei überquerte Sara die 116 th Street und lief die Amsterdam Avenue hinauf. Rechts von ihr lagen die hochmodernen Einrichtungen ihrer Alma mater, der Columbia Law School, links von ihr befanden sich die betagten, altehrwürdigen Gebäude der Columbia University. Als sie jedoch weiter nach Norden kam, wurden die Bauten wesentlich weniger imposant, und innerhalb eines Straßenzugs wichen Marmorstatuen, gotische Architektur und reich verzierte Spitzbögen heruntergekommenen Läden, verbeulten Autos und der übelsten schlaglochübersäten Straße Manhattans. An der 121 st Street hörte das Gelände der Columbia University offiziell auf. Und wie Sara im ersten Semester ihres Jurastudiums gelernt hatte, gab es eine klare Grenze zwischen der Eliteuniversität und Harlem, New York.
Als Sara die Ralph Bunche Elementary School erreichte, wimmelte es am Eingang des ramponierten Ziegelbaus von Hunderten von Jugendlichen, die sich freuten, dass die Schule aus war. Als sie um die Ecke bog und sich einen Weg durch die Schülerscharen bahnte, hörte Sara jemanden rufen: »Du bist spät dran!« Auf dem Kofferraumdeckel eines weißen Autos saß Tiffany Hamilton, Saras kleine Schwester. Sara wusste zwar, dass Tiffany für eine Siebtklässlerin sehr groß war, aber ihr vor kurzem getroffener Entschluss, Lippenstift zu benutzen, ließ sie wesentlich älter aussehen als dreizehn. Sie hatte große Augen, dunkelbraune Haut und einen langen, tadellosen Zopf, der ihr über den Rücken hinabfiel. Außerdem hatte sie den Charme einer Dampfwalze.
»Ich hab gesagt, du bist spät dran«, wiederholte Tiffany.
»Ich habe gehört, was du gesagt hast«, erwiderte Sara, als sie den Wagen erreichte. »Ich hatte bloß keine Lust, dir zu antworten.«
»Wo warst du?«
»Im Büro.«
»Ach ja, klar.« Tiffany sprang zu Boden. Ihr rosa Lippenstift glänzte in der Nachmittagssonne. »Hab ganz vergessen, dass du wieder angefangen hast. Kannst du schon Leute verhaften? Kriegst du eine Dienstmarke?«
»Nein, wir kriegen keine Dienstmarke«, sagte Sara lachend. »Wir kriegen bloß einen Eimer voll Lippenstifte. Heutzutage kann das eine Waffe sein – unsere Gegner blenden und so.«
»Sehr witzig.« Tiffany presste verlegen die Lippen aufeinander. »Aber erzähl doch noch ein bisschen von deinem neuen Job. Gefallt er dir?«
»Klar gefällt er mir. Aber der Fall, an dem ich gerade arbeite, kostet mich ganz schön Nerven.«
»Echt? Ist es ein Mord? Ist jemand erschossen worden?«
»Nein, ein Einbruch. Und rate mal, wer der Verteidiger ist.«
»Perry Mason.«
»Woher kennst du Perry Mason?«
»Aus dem Fernsehen.«
»Trotzdem falsch. Rate noch mal.«
»Ist er dicker oder dünner als Perry Mason?«
»Wie kommst du darauf, dass es ein Mann ist? Frauen können auch Anwälte sein.«
»Okay, dicker oder dünner?«
»Dünner.«
»Hässlicher oder hübscher?«
»Hübscher.«
»Größer oder
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