Der falsche Apostel
es. Nie und nimmer würde er lügen.«
»Aber ein Priester, der bereits geweiht ist, würde lügen? Deshalb konntest du Cornelius keinen Glauben schenken? Steckt in
dieser Betrachtungsweise nicht ein Widerspruch?«
»So habe ich das nicht gemeint«, verteidigte sich Miseno heftig.
»Aber genau so stellt es sich mir dar. Du hältst Tullius für glaubwürdig, Cornelius hingegen nicht.«
»Cornelius befleckt die Würde der Priesterschaft, weil er sich eine Geliebte hält.«
»Talos hat eine Andeutung gemacht, dass Tullius zu männlichen Liebhabern neigt. Du hast durchblicken lassen, dir sei das bekannt.
Daraus ergibt sich, dass du nicht nur dem Wort eines Diakons mehr Glauben schenkst als dem Wort eines Priesters, sondern auch,
dass du einen Mann verdammst, weil er sich eine Geliebte oder Mätresse hält, während du einen jungen Mann unter deine Fittiche
nimmst, von dem es heißt, er habe einen männlichen |289| Liebhaber. Wieso ist der eine in deinen Augen verdammenswert, der andere aber lobenswert?«
Abt Miseno knirschte mit den Zähnen. »Ich bin nicht der Liebhaber von Tullius, falls du mir das unterstellst. Tullius ist
mein Schutzbefohlener. Er ist mein Protegé.«
»Ziehst du deine Aussage zurück, dass Tullius einen Liebhaber seines Geschlechts hat?«
»Du hast mit dem jungen
custos
gesprochen.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Gibst du zu, dass du in deinen Entscheidungen nicht vorurteilsfrei bist?«
»Willst du damit sagen, Tullius hat mich belogen? Welche Beweise hast du dafür?«
»Genauso viele wie du dafür hast, dass er die Wahrheit sagt.«
»Warum sollte er mich belügen?«
»Du wirst ihm die Priesterweihen erteilen. Wahrscheinlich schwebt dir vor, dass er Cornelius auf dieser Pfarrstelle ersetzt?«
Die Miene des Abts verriet, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. »Was hat das mit dem Tod des Galliers zu tun?«
»Alles hat damit zu tun«, versicherte ihm Fidelma.
Sie wandte sich um und forderte die kleine Gemeinde auf, sich vor dem Altar zu versammeln.
»Ich bin nun in der Lage, euch zu erklären, warum Docco, ein Besucher dieses Landes und dieser Stadt, starb«, verkündete sie
kühl und sachlich.
Mit erwartungsvollen Gesichtern kamen sie heran und drängten sich um sie.
»Schwester Fidelma!«, rief Egeria. »Wir wissen doch, dass nur einer unter uns meinen Bruder lieber tot als lebendig sehen
wollte. Für alle anderen war er ein Fremder.«
|290| Enodoc wurde kreidebleich. »Das ist nicht wahr. Niemals würde ich jemandem etwas zuleide tun …«
»Das glaube ich dir nicht!«, schrie Egeria. »Du allein hattest Grund, ihn zu töten, wer denn sonst!«
»Wie aber, wenn Docco einfach nur deshalb gestorben ist, weil er der Erste war, der das Abendmahl empfangen wollte?«, unterbrach
sie Fidelma.
Gespannte Stille griff um sich. »Fahre fort«, drängte sie der Abt in eisigem Tonfall.
»Docco war nicht als Opfer ausgewählt. Jeder von uns hätte das Opfer sein können. Hinter dem Verbrechen stand die Absicht,
Pater Cornelius in Verruf zu bringen.«
Abt Misenos Augen funkelten Fidelma böse an. »Diese Anschuldigung musst du uns begründen …«
»Dazu bin ich bereit. Eine Bemerkung, die der Abt machte, brachte mich auf das wirkliche Motiv für diese schreckliche Tat.
Er sagte, wäre Pater Cornelius ein der Kirche treu ergebener Priester gewesen, dann hätte das Gift unwirksam werden müssen,
weil sich bei der Segnung der Wein in das Blut Christi verwandele. Das Tatmotiv bestand also darin, vorzuführen, dass Pater
Cornelius unwürdig sei, das Priesteramt auszuüben.«
Pater Cornelius schaute sie überwältigt an.
Fidelma fuhr fort: »Seit einiger Zeit trug Diakon Tullius dem Abt Geschichten über das Fehlverhalten von Cornelius zu, die
dieser mit aller Entschiedenheit zurückweist. Doch Abt Miseno glaubte sie vorbehaltlos. Tullius ist sein Schützling und kann
in seinen Augen nichts Unrechtes tun. Außerdem beabsichtigte Miseno, den Diakon zu ordinieren, und als Priester würde er eine
eigene
ecclesia
benötigen. Was bot sich da besser an als diese Kirche … Vorausgesetzt, man hatte Cornelius seines Amts enthoben. Doch Cornelius
wehrte sich. Eine Anschuldigung wegen |291| würdelosen Betragens und Fehltritts hätte vor dem zuständigen Bischof begründet werden müssen.«
»Wen klagst du nun an?«, rief Cornelius dazwischen. »Mi seno oder Tullius?«
»Keinen von beiden.«
Ihre Erwiderung traf auf verständnislose
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