Der falsche Apostel
irische Schrift lesen kann,
also habe ich ihr den Zettel geschrieben und ihn bei der Pförtnerin hinterlassen.«
»Ja, jetzt passt alles zusammen.« Fidelma seufzte. Sie wandte sich nun an den anderen jungen Klosterbruder. »Sinsear, würdest
du bitte Äbtissin Ballgel die Phiole mit dem Heiligen Blut aus deinem
marsupium
reichen? Die Äbtissin ist außerordentlich besorgt darum, seit sie erfahren hat, dass es nicht mehr in Cessairs
marsupium
war.«
Bruder Sinsear fuhr zusammen und wurde bleich. Wie im Traum fasste er in den Beutel, der an seinem Gürtel hing, und übergab
die Phiole.
»Ich fand sie am Boden … Ich wollte sie dir schon früher geben …«
Fidelma schüttelte traurig den Kopf.
»Eine der schrecklichsten Leidenschaften ist Liebe, die in |520| Hass umgeschlagen ist, weil sie zurückgewiesen wurde. Ein Liebender, der das Objekt seiner Zuneigung mit einem Rivalen sieht,
kann sich manchmal in den Teufel in Menschengestalt verwandeln.«
Bruder Cano schaute sie verwundert an.
»Cessair hat mich nicht zurückgewiesen«, rief er. »Ich sage es dir noch einmal, ich habe sie nicht umgebracht. Wir haben geplant,
zusammen von hier fortzugehen.«
»Ich habe Sinsear gemeint«, erwiderte Fidelma. »Sinsears Liebe ist in Hass umgeschlagen, in eine Wut, die das Mädchen verletzen
und verstümmeln wollte.«
Sinsear starrte sie mit offenem Mund an.
»Sinsear war schon lange in Cessair verliebt. Da er noch sehr jung war und seine Gefühle nicht ausdrücken konnte, verehrte
er sie aus der Ferne, träumte von dem Tag, an dem er den Mut aufbringen würde, ihr seine Liebe zu gestehen. Dann kam Cano.
Zuerst waren die beiden gute Freunde. Eines Tages stellte Sinsear Cano seiner Angebeteten vor. O Schreck! Cano und Cessair
verliebten sich ineinander. Tag für Tag musste Sinsear ihre Leidenschaft mit ansehen. Seine Eifersucht steigerte sich so sehr,
er war so erzürnt darüber, dass ihn, wie er die Dinge sah, Cessair verschmäht hatte, dass er darüber den Verstand verlor.
Er wollte sich mit einer Gewalt an Cessair rächen, wie sie nicht einmal die Hölle kennt.«
Sinsears Gesicht war völlig ausdruckslos geworden.
»Er schlug Cano vor, er sollte sich mit Cessair in der Hütte treffen, um die gemeinsame Flucht aus ihren Klöstern vorzubereiten.
Dann verließ er Fosse so rechtzeitig, dass er in die alte Eiche klettern und sich in ihren niedrigen Zweigen verbergen konnte,
um dort auf Cessair und ihre Begleiterin zu warten. Deswegen hat Schwester Della nicht gehört, wie sich jemand von hinten
anschlich. Sinsear sprang herunter. Ich habe die |521| Fußabdrücke an der Stelle gesehen, wo er gelandet ist. Er betäubte Della mit einem Schlag auf den Hinterkopf, ehe sie es sich
versah. Habe ich recht?«
Sinsear antwortete nicht.
»Vielleicht hat er dann Cessair seine Liebe gestanden? Vielleicht hat er sie angefleht, mit ihm wegzulaufen. Hat sie mit Angst
und Schrecken darauf reagiert? Hat sie ihn ausgelacht? Wie hat sie diesen verstörten Möchtegern-Liebhaber behandelt? Wir wissen
nur, was das Endergebnis war. Er schlug sie mehrmals auf den Kopf. Dann beschloss er, sie in einem grausamen Ritual, das uns
seine Unreife beweist, für die Schönheit zu bestrafen, mit der sie ihn betört hatte, indem er ihr das Gesicht zerschnitt.
Ob er sie davor an den Baum gebunden hat, werden wir erst erfahren, wenn er es uns sagt. Aber ich hege keinerlei Zweifel,
dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot war.
Irgendetwas muss ihn dazu bewogen haben, die Phiole mit dem Heiligen Blut mitzunehmen. Da gewann offenbar seine religiöse
Erziehung die Oberhand. Denn anstatt die Phiole in Cessairs Beutel zu lassen, steckte er sie zur Sicherheit in seinen eigenen.
Obwohl mir klar war, dass das Fehlen der Phiole für die Tat keinerlei Bedeutung hatte, konnte ich mir bisher keinen Reim darauf
machen, warum sie verschwunden war.
Vielleicht bemerkte Sinsear dann, dass Schwester Della wieder zu sich kam. Er machte kehrt und rannte nach Nivelles, um Alarm
zu schlagen. Er glaubte, Schwester Della würde vielleicht nach Fosse gehen, um dort Hilfe zu holen, und deswegen entschied
er sich für Nivelles.«
Abt Heribert blickte Sinsear mit erschrockenen Augen an und sah auf den unbeweglichen Gesichtszügen des jungen Mönchs bestätigt,
dass Fidelma die Wahrheit sprach.
»Wie ist dein Verdacht überhaupt auf Sinsear gefallen?«, fragte er.
|522| »Ich kann dir viele Gründe dafür nennen. Man muss nur die
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