Der falsche Apostel
Ereignisse noch einmal der Reihe nach überdenken. Seinem eigenen
Wort nach ging Sinsear in den Wald, um Cessair und Della zu suchen. Er fand Cessair tot und an einen Baum gebunden. Er behauptet,
er hätte diese Stelle erst erreicht, nachdem Della bereits verschwunden war. Aber wie konnte er die an den Baum gebundene
Cessair sehen, die sich doch, von seiner Laufrichtung aus betrachtet, auf der dem Weg abgewandten Seite befand? Selbst wenn
man annimmt, dass er vielleicht etwas gesehen haben mag, das ihm verdächtig erschien, dass er zu verstört war, um auf die
Idee zu kommen, sie vom Baum herunterzuschneiden und herauszufinden, ob er sie wieder zum Leben erwecken könnte, warum ist
er dann nach Nivelles gerannt?«
»Um Hilfe zu holen. Wie er dir bereits sagte, liegt Nivelles näher an dieser Stelle als Fosse. Es war nur logisch.«
»Aber es gab doch noch einen viel näher gelegenen Ort, wo er hätte um Hilfe rufen können«, erklärte Fidelma. »Warum ist er
nicht dahin gerannt? Er wusste, dass Bruder Cano nur wenige hundert Schritte entfernt in der Hütte wartete. Wäre er unschuldig,
dann wäre er zu Cano geeilt und hätte den zu Hilfe gerufen.«
Ein Aufschrei ließ sie alle erstarren.
Sinsear hatte ein Messer gezückt und stürzte sich, zusammenhanglose Wortfetzen murmelnd, auf Bruder Cano.
Cano verteidigte sich mit einem Schlag auf das Kinn des jungen Mönchs, der diesen zu Boden streckte.
»Nun kannst du ihn nach den Gesetzen bestrafen, die hier herrschen«, erklärte Fidelma Abt Heribert. Sie wandte sich der Äbtissin
zu. »Und wir, Ballgel, werden die arme Schwester Della zurück nach Nivelles geleiten. Wir haben vieles zu besprechen …« Sie
hielt inne und schaute traurig zu Bruder Cano, der ruhig dasaß, den Kopf in den Händen vergraben.
|523| »Schon in der Antike war man sich dieses Gefühls bewusst, das dem Wahnsinn gleichen kann. Die
Aegra amans
– die Krankheit der Liebenden – kann die Menschen vollkommen um den Verstand bringen, kann die reifsten von ihnen völlig verwirren.
Bei jungen und unreifen Menschen vermag die Liebe Seele und Verstand zu zerstören.«
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|524| DAS GEHEIMNIS DER MADONNA
Der Wind pfiff erbarmungslos, und das Heulen der Wölfe jagte ihr Schauer über den Rücken. Sie waren in unmittelbarer Nähe,
diese fürchterlichen Jäger der Nacht. Sehen konnte Schwester Fidelma sie nicht, denn das Schneetreiben nahm ihr jede Sicht.
Die wirbelnden, eiskalten winzigen Flocken kamen in dichten Schwaden geflogen. Dahinter verschwand die Landschaft, kaum eine
Armlänge konnte sie vor sich ausmachen.
Wäre es nicht so dringend gewesen, nach Cashel zu gelangen, dem Sitz der Könige von Muman, hätte sie nie den Ritt nach Norden
unterhalb der dräuenden Gipfel der Berge von Comeraigh unternommen. Sie beugte sich im Sattel vor, um dem Unwetter standzuhalten.
Dass sie auf einem Pferd unterwegs war, verdankte sie ihrem Rang als
dálaigh
bei den Gerichten der fünf Könige Irlands. Einer einfachen Nonne hätte kein Reittier zugestanden, aber Fidelma war keine einfache
Nonne. Sie war die Tochter des verstorbenen Königs von Cashel, wirkte als Anwältin bei den Gerichtshöfen, die nach den Gesetzen
des
Fenechus
Recht sprachen, und hatte sogar den Titel eines
anruth
erworben, die zweithöchste Auszeichnung eines Gelehrten. Unaufhörlich trieb ihr der Wind den Schnee ins Gesicht, der sich
in den roten Haarsträhnen festsetzte, die unter ihrem
cubhal
, ihrem Schleier, hervordrängten und sie gegen die bleiche Stirn drückten. Konnte sich die Windrichtung nicht ändern, |525| wenigstens für ein paar Minuten? Den Wind im Rücken zu haben wäre erträglicher gewesen. Doch der Sturm blies unablässig aus
Nord.
Das bedrohliche Geheul der Wölfe kam näher. Bildete sie es sich nur ein, oder ritt sie dem Rudel auf dem einsamen Weg durch
die Berge entgegen? Sie zitterte und schalt sich, dass sie die Nacht nicht im letzten Wirtshaus verbracht und milderes Wetter
abgewartet hatte. Doch der Schneesturm hatte gerade begonnen, und es konnte Tage dauern, bis er sich legte. So viel Zeit aber
blieb ihr nicht. Die Nachricht, die sie von ihrem Bruder Colgú erhalten hatte, war beunruhigend und drängend. Die Mutter lag
im Sterben. Grund genug für Fidelma, bei so unbarmherzigem Wetter auf gefährlichem Pfad durch die im Schnee versinkende Bergwelt
zu reiten.
Ihre Wangen waren eiskalt, die Hände steif und klamm, tapfer trotzte sie den vom Wind
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