Der falsche Apostel
getriebenen Schneeschauern. Obwohl sie
sich den schweren wollenen Umhang umgeschlungen hatte, klapperte sie mit den Zähnen und fror erbärmlich. Unversehens ragte
eine dunkle Gestalt im Schneetreiben vor ihr auf. Das Herz schlug ihr bis zum Halse, ihr Pferd scheute und wäre fast gestürzt.
Doch sie konnte sich halten, das Ross zügeln und erlöst aufatmen. Wenige Schritte vor ihr stand ein majestätischer Hirsch,
beäugte sie, wandte sich mit einem Ruck um und verschwand im hoch aufstiebenden Flockenwirbel.
Sie ritt weiter und merkte bald, dass sie auf den Kamm einer Anhöhe geraten war, denn der Sturm drohte sie vom Pferd zu werfen.
Auch ihr Tier senkte den Kopf und stemmte sich mit den Hufen gegen den Boden, um dem eisigen Ansturm besser standhalten zu
können.
Fidelma schaute blinzelnd in der vor ihr verschwimmenden Landschaft umher. Sie glaubte, ein Licht erblickt zu haben. Oder
war es nur Einbildung? Wieder und wieder blinzelte sie, |526| trieb ihr Pferd voran, mühte sich, die Richtung nicht zu verlieren. Unbewusst zog sie ihren Überwurf noch dichter um Schultern
und Hals.
Doch! Sie hatte richtig gesehen. Da war ein Licht!
Sie hielt an, glitt vom Pferd und schlang die Zügel locker um den Arm. Der Schnee war knietief, darin vorwärtszukommen war
fast unmöglich. Aber sie konnte mit dem Ross nicht blindlings durch die Schneewehen reiten, sie musste sich erst selbst überzeugen,
ob sie noch festen Boden unter den Füßen hatte. Binnen kurzem geriet sie an einen hohen Pfahl. Sie hob den Kopf, versuchte,
in dem Schneegestöber etwas zu erkennen. Und siehe da, über ihrem Kopf schwankte eine Sturmlaterne im Wind.
Wo genau sie sich befand, enthüllten ihr die wirbelnden Flocken nicht. Doch sie war sich sicher, dass die Laterne das übliche
Zeichen eines
bruidhen
, eines Gasthofs, war, denn es gab ein Gesetz, das alle Gastwirte verpflichtete, nachts oder bei Wetterunbilden eine Laterne
als Wegweiser anzuzünden.
Sie entschied sich auf gut Glück für eine Richtung, in die sie weiter durch den tiefen Pappschnee stapfen wollte. Dann ließ
der Wind für einen Moment nach, und sie konnte die dunklen Umrisse eines Gebäudes ausmachen. Erneut toste der Sturm los, sie
zog den Kopf ein und wankte auf das Haus zu. Mehr durch Zufall als durch irgendeinen Fingerzeig geriet sie an die Querstange
zum Anbinden der Pferde, knotete die Zügel fest und tastete sich an der kalten Steinwand zur Tür.
Das Schild über dem Eingang konnte sie nicht entziffern. Mit Befremden nahm sie einen an der Tür hängenden, fast völlig eingeschneiten
Kranz trockener Gräser und Kräuter wahr. Sie griff nach der eisernern Klinke, drückte sie herunter und rüttelte daran, doch
die Tür gab nicht nach. Unmutig krauste sie die Stirn. Dem Gesetz nach war jeder
brugh-fer
, jeder Gastwirt, |527| verpflichtet, seine Tür zum Gasthaus Tag und Nacht und bei jedem Wetter geöffnet zu halten.
Wieder ließ der Sturm etwas nach, und sein Heulen schwächte sich zu einem leisen Stöhnen ab. Erbost hämmerte Fidelma mit der
geballten Faust an die Tür. Ertönte von drinnen ein Aufjammern, oder war es nur das Wimmern des um die Ecken streichenden
Luftzugs?
Jede andere Antwort blieb aus. Abermals trommelte sie gegen die Tür, nun schon richtig wütend. Dann vernahm sie ein Geräusch,
hörte Schritte, und eine krächzende Männerstimme rief: »Gott und seine Heiligen, stellt euch zwischen uns und allem, das von
Übel ist! Hebe dich hinweg, verfluchter Geist!«
Fidelma stand wie vom Donner gerührt, fasste sich rasch und rief, so laut sie konnte: »Mach auf, Gastwirt! Öffne einer Anwältin
der Gerichtshöfe, öffne einer Schwester aus der Abtei Kildare! Im Namen der Barmherzigkeit, öffne einer, die bei dem Unwetter
nicht weiterkann!«
Einen Augenblick blieb alles still. Dann glaubte sie Stimmen zu hören, die sich heftig stritten. Noch einmal pochte sie mit
aller Kraft.
Schließlich wurden Riegel zurückgezogen, und die Tür ging auf. Ein Schwall warmer Luft umfing Fidelma, sie drängte sich hinein
und schüttelte den Schnee von ihrem wollenen Umhang.
»Was ist das für ein Gasthaus, das die Gesetze der Brehons missachtet?«, fuhr sie den Mann an, der die Holztür hinter ihr
schloss.
Er war groß und dürr, mittleren Alters, an den Schläfen bereits ergraut und sah aschfahl aus. Bekleidet war er nur dürftig,
er hielt sich gebückt. Doch nicht deshalb sah ihn Fidelma erstaunt an. Sein entsetzter
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