Der falsche Engel
normal.«
»Michail, nun tu doch irgendwas!«, wiederholte General Gerassimow leise. Er war in Paradeuniform in seinem ehemaligen Büro
im berühmten Haus am Lubjanka-Platz erschienen.
Jetzt residierte hier Oberst Raiski. Anstelle des Dzierżyński-Porträts hing an der Wand eine Kopie von Rembrandts »Nachtwache«,
ein Geschenk holländischer Kollegen. Auf dem mächtigen alten Tresor hatte jahrzehntelang eine Leninbüste gestanden. Raiski
hatte sie durch ein Aquarium mit Goldfischen ersetzt.
Raiski registrierte, dass sein einstiger Chef in den letzten Tagen noch mehr abgebaut hatte. Er war blass, zusammengesunken
und wirkte kleiner.
»Wie geht es Ihnen, Wladimir?«, fragte der Oberst freundlich.
»Hör auf!«, blaffte der General. »Du weißt, dass ich diese Frage hasse! Mir geht es überhaupt nicht. Ich bin krankhaft gesund!
Sag mir, kapierst du irgendetwas? Hast du wenigstens irgendeine Vermutung?«
»Tja, was für eine Vermutung?« Raiski drehte einen großen silbernen Kugelschreiber aus einem Geschenkset in der Hand und ließ
seine Brillengläser aufblitzen. »Also, bis jetzt sieht die Sache so aus: Ein Auftragsanschlag. Dann ein Auftragsmord, aber
nicht an Stas, sondern an seinem Chauffeur. Gleichzeitig die Geschichte mit den gesperrten Kreditkarten. Weiter – die Mordwaffe
wird in der Wohnung von Stanislaws Freundin gefunden – offensichtlich untergeschoben. Das heißt, erst versucht man ihn umzubringen,
dann will man ihn einschüchtern und belasten, und dabei haben wir es nicht mit einem Einzelnen zu tun, sondern mit einer organisierten
Gruppe. Richtig?«
»Ja, richtig«, brummte der General und nickte zustimmend, besann sich dann, trat energisch an den Schreibtisch, beugte sich
über Raiski und schrie mit heiserer, brüchiger Stimme: »Aber du vergisst das Wichtigste! Die getroffenen Maßnahmen! Für die
Sicherheit meines Sohnes! Meinst du, das dürfte ich nicht wissen? Oder tust du überhaupt nichts?«
»Sie übersehen da was Wichtiges, General. Wenn ich nicht die Kontrolle über die Situation übernommen hätte, wäre Ihr Sohn
nicht als Zeuge befragt worden, sondern als Verdächtiger. Oder sind Sie anderer Meinung?«
»Ja!«, knurrte Gerassimow. »Ich bin anderer Meinung! Das begreift doch ein kleines Kind, dass mein Stas den Chauffeur nicht
getötet hat!«
»Ein kleines Kind vielleicht« – Raiski lächelte –, »aber für die Ermittler sind viele Fragen offen. Der Kellner im Restauranterinnert sich gut an Stas und behauptet, Stas habe kaum etwas getrunken. Die Dame habe viel getrunken, er nicht. Stas dagegen
bleibt bei seiner Aussage, er sei total betrunken gewesen und hätte vergessen, dass sein Chauffeur auf ihn wartete. Dann schwört
Stas, er könne nicht schießen, habe noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, aber wir beide wissen, dass er zwei Jahre lang
Sportschütze war. Zwar kein sehr erfolgreicher, aber er kann mit einer Waffe umgehen. Und um jemanden aus nächster Nähe zu
erschießen, braucht man kein besonderes Training.«
»Das Motiv«, sagte der General ruhig, »wo ist das Motiv, Michail? Warum sollte Stas seinen Chauffeur umbringen?«
»Sie haben den Chauffeur Georgi beauftragt, Ihren Sohn zu überwachen und Ihnen darüber zu berichten, richtig?«
»Augenblick, Michail, soll das deine Hypothese sein?« Die Stimme des Generals verriet nichts als Müdigkeit.
»Ich habe eine ganz andere Hypothese, und die kennen Sie sehr gut.«
»Ismailow?«
»Wer sonst? Sie haben zu Recht immer befürchtet, dass Stas sich mit seinen Partys und seiner Leidenschaft für blutjunge Mädchen
eines Tages reinreiten würde.«
»Das verstehe ich nicht« – der General schüttelte den Kopf –, »bloß weil mein Sohn sich mit dieser kleinen Sängerin eingelassen
hat, geht der Tschetschene ein solches Risiko ein? Er geht doch ein Risiko ein, oder?«
»Stimmt. Aber nicht, weil Ihr Sohn sich mit der Sängerin eingelassen hat. Im Herbst 1985 wurde der Sekretär der Gebietsleitung
der Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Sowjetrepublik Hassan Ismailow verhaftet. Sie haben die Ermittlungen geleitet, Sie
…«
»Hör auf«, unterbrach ihn der General gereizt, »das ist fünfzehn Jahre her. Die Operation war streng geheim. Ismailow senior
ist tot. Wenn Ismailow junior erfahren hätte,wer seinen Vater ins Gefängnis gebracht hat, hätte er längst etwas unternommen und versucht, mich zu töten, nicht Stas.«
»Solche Dinge verjähren nicht. Das zum
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