Der falsche Freund
Sache nicht lange überlegen, wie andere es vielleicht täten. Genau wie deinem Vater und mir ist sicher auch dir klar, dass Troy und Kerry auf eine Art und Weise finanzielle Unterstützung brauchen und immer brauchen werden, wie du sie niemals benötigen wirst.«
»Worauf willst du hinaus?«, wiederholte ich. Dabei wusste ich ganz genau, worauf sie hinauswollte.
»Ich will damit nur sagen, dass wir besondere Ressourcen für Troy und Kerry bereitstellen werden. Dein Vater und ich halten das einfach für nötig, und wir hoffen, du siehst das auch so.«
Konkret meinte sie damit – natürlich –, dass sie Geld aus jenem Stück des Familienkuchens, der rein theoretisch auf irgendeine Weise für mich bestimmt gewesen war, stattdessen Troy und Kerry geben würden. Was sollte ich dazu sagen?
Nein? Ich will nicht, dass ihr meinem Bruder und meiner Schwester helft? Eine kleine, ungefähr haselmausgroße Miranda in einer Ecke meines Gehirns stimmte ein wütendes, klägliches Geheul an, aber ich stopfte ihr einen metaphorischen Knebel in den Mund.
Am liebsten hätte ich ebenfalls losgeheult. Es ging mir nicht um das Geld, zumindest glaube ich das. Es ging mir um die Gefühle, die hinter dem Geld steckten. Wir werden niemals erwachsen genug, um nicht mehr das Bedürfnis zu haben, von unseren Eltern verhätschelt und umsorgt zu werden. Ich lächelte breit. »Natürlich«, antwortete ich.
»Ich wusste, dass du einverstanden sein würdest«, sagte meine Mutter erleichtert.
»Dann muss ich mir jetzt wohl einen reichen Ehemann suchen«, meinte ich, immer noch lächelnd.
»Du wirst alles bekommen, was du dir wünschst«, antwortete meine Mutter.
10. KAPITEL
Sie kamen früher als erwartet, sodass ich noch im Bademantel Kaffee trank und dazu ein Stück Vanillecremetorte aß, das ich vor ein paar Tagen auf dem Heimweg von der Arbeit gekauft hatte. Kein sehr gesundes Frühstück, aber die Creme schmeckte bereits ein wenig fad, und wenn ich die Torte jetzt nicht vertilgte, würde ich sie wegwerfen müssen. Außerdem war ich schon joggen gewesen, hatte an diesem wunderschönen, wenn auch kalten Oktobermorgen keuchend acht Kilometer hinter mich gebracht. Den qualvollen Lauf glich die Torte wieder aus.
Ich hatte eigentlich vorgehabt, mir noch die Zehennägel zu lackieren, das Wohnzimmer ein wenig aufzuräumen und Nick anzurufen, um mich mit ihm zum Mittagessen zu verabreden, damit ich einen guten Vorwand hatte, gleich nach ihrem Eintreffen die Flucht zu ergreifen.
Leider war ich noch nicht dazu gekommen, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, als es dreimal energisch klingelte. Bevor ich ihnen öffnen konnte, hörte ich schon einen Schlüssel im Schloss kratzen. Obwohl ich ihn Kerry selbst gegeben hatte, verspürte ich einen Anflug von Groll. Ich fand, sie hätten mir trotzdem Gelegenheit geben sollen, sie bei ihrer Ankunft wie Gäste in mein Reich einzulassen. Das kratzende Geräusch dauerte an. Ich hörte erst leises Fluchen, dann Gelächter. Rasch stopfte ich mir das letzte Stück Torte in den Mund, band im Gehen den Gürtel meines Bademantels fester und riss die Tür auf. Mit ihr zog ich Brendan in die Wohnung, der immer noch an dem im Schloss steckenden Schlüssel herumfummelte. Wir waren ungefähr sechs Zentimeter voneinander entfernt. Er trug einen dicken Mantel, der meinem Vater gehörte, und einen langen gesprenkelten Schal, der aussah wie der, den ich Troy im Vorjahr zu Weihnachten geschenkt hatte. In der linken Hand hielt er eine große Nylontasche. Ich konnte einen Pyjama sehen, einen Bademantel, Rasierschaum. Seine Augen leuchteten, sein dunkles Haar glänzte. Sein Mund wirkte röter als sonst.
»Hallo«, sagte ich kurz angebunden und trat beiseite, um ihn hereinzulassen, aber er stellte sich einfach vor mich hin, als wären wir Partner bei einem Tanz, und blickte auf mich herab.
Sein aufgestellter Mantelkragen streifte mein Kinn. Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange.
»Hallo, Mirrie«, begrüßte er mich. Er hob einen Daumen, und bevor ich ihn davon abhalten konnte, wischte er mir sanft einen Tortenkrümel von der Oberlippe. Dann beugte er sich zu mir herunter und drückte mir seine roten Lippen auf die Wange. Ich roch Minze und darunter etwas Säuerliches.
Rasch wandte ich mich ab und wischte mit der Hand über die Stelle, wo er mich geküsst hatte. Dann zog ich mich weiter in die Diele zurück. Brendan folgte mir. Hinter ihm trat Kerry in die Wohnung. Sie hatte einen leuchtend roten Dufflecoat an und von
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