Der falsche Freund
dir diese Sache zu erklären.«
»Du brauchst mir gar nichts zu erklären.«
»Aber …«
»Lass uns nach Hause gehen.«
Hinterher kuschelten wir uns in meinem dunklen Schlafzimmer aneinander. Nur an den Rändern des Vorhangs fiel von draußen ein wenig Licht herein. Ich hatte den Kopf auf Nicks Brust gelegt und streichelte sanft seinen Bauch, bis hinunter zum Rand seiner Schambehaarung. Er atmete so ruhig und gleichmäßig, dass ich schon glaubte, er wäre eingeschlafen. Aber dann fragte er plötzlich: »Was hat er gesagt?«
»Was?«
»Brendan. Was hat er gesagt? Ich meine, was hat er wirklich gesagt?«
Ich stützte mich auf einen Ellbogen und sah auf ihn hinunter.
»Du weißt, dass du mich alles fragen kannst.«
»Deswegen frage ich dich ja.«
»Ich wollte eben noch hinzufügen, dass es manchmal besser ist, etwas nicht zu wissen. Manche Dinge können einem ganz schön zu schaffen machen.«
»Stimmt. Seit du diese Sache erwähnt hast, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Und genau deswegen muss ich wissen, was er gesagt hat. So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein.«
Ich spürte plötzlich eine eisige Kälte auf meiner Haut, als hätte ich Fieber und würde gleichzeitig frieren.
»Er hat gesagt …« Ich holte tief Luft und stieß es dann schnell hervor. »Er hat gesagt, er müsse daran denken, wie er in meinem Mund gekommen sei. Ich fühlte mich – na ja, du kannst es dir vielleicht vorstellen. Ich bin aus dem Zimmer gerannt und habe mich übergeben. So, jetzt weißt du es. Jetzt kennst du die Wahrheit.«
»Lieber Himmel«, sagte er. Dann schwieg er eine Weile, und ich wartete. »Hast du es jemandem erzählt?«, fragte er schließlich.
»Du bist der Erste.«
»Warum hast du es deiner Familie nicht gesagt? Sie hätten ihn bestimmt auf der Stelle hinausgeworfen.«
»Glaubst du? Ich weiß nicht. Er hätte es abstreiten können.
Wahrscheinlich hätte er behauptet, ich hätte ihn falsch verstanden. Irgendwas wäre ihm bestimmt eingefallen.
Außerdem konnte ich in dem Moment keinen klaren Gedanken fassen. Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand gleichzeitig ins Gesicht und in den Magen geboxt. Und? Was sagst du dazu?
Ist es schlimmer, als du es dir vorgestellt hast?«
»Ich weiß nicht so recht«, antwortete er zögernd. Dann schwiegen wir beide. Allerdings konnte ich lange nicht einschlafen, und ich weiß nicht, wie es ihm erging. Irgendwann murmelte ich etwas, aber er reagierte nicht. Nur sein gleichmäßiger Atem war zu hören. Ich lag noch eine Weile schlaflos neben ihm und starrte zur Zimmerdecke, über die hin und wieder das Licht eines Scheinwerfers glitt.
Als meine Mutter die Bar betrat, wurde mir plötzlich klar, dass sich nicht nur meine Schwester verändert hatte. Mum sah sehr hübsch aus und irgendwie jünger als das Bild, das ich mir in meiner Vorstellung von ihr machte. Ihr Haar war hochgebürstet, und sie trug einen Regenmantel mit Gürtel, dessen Stoff beim Gehen raschelte, lange Ohrringe und einen dunkelroten Lippenstift. Lächelnd hob sie eine behandschuhte Hand, während sie den Raum durchquerte. Als sie sich herunterbeugte, um mir einen Kuss zu geben, roch ich eine Mischung aus Parfüm und Gesichtspuder.
Aus heiterem Himmel fiel mir eine Episode aus meiner Kindheit ein. Wir hatten eine Radtour gemacht, und ich war weit hinter den anderen zurückgeblieben. So sehr ich mich auch abmühte, ich kam einfach nicht voran, und der Abstand zwischen mir und den anderen wurde immer größer. Nach einer Weile warteten sie, bis ich sie eingeholt hatte. Dann ließen sie mich wieder hinter sich zurück. Ich weiß noch, dass ich vor Wut und Erschöpfung Tränen in den Augen hatte, aber beharrlich weiterstrampelte. Als wir wieder zu Hause waren, nahm mein Vater mein Fahrrad genauer unter die Lupe und stellte fest, dass mit meiner Bremse etwas nicht stimmte und dadurch einer meiner Reifen während der gesamten Fahrt abgebremst worden war. Vielleicht ist das eine zu einfache Metapher für Phasen, in denen uns alles besonders schwer zu fallen scheint – als würden wir mit angezogener Bremse fahren. Gerade fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht jahrelang mit angezogener Bremse gefahren war und nun, da Kerry sich verliebt hatte, endlich befreit durchstarten konnte.
»Ich habe uns eine Flasche Weißwein kommen lassen«, sagte ich.
»Eigentlich sollte ich nichts trinken«, antwortete sie, was in Mutter-Sprache so viel hieß wie »vielen Dank«.
»Keine Sorge«, erwiderte ich.
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