Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
zusammengeklapptem Schirm hetzte über die Straße, weil sie unbedingt den Trolleybus erreichen wollte. Er fuhr ihr aber vor der Nase davon. Ein Junge schlenderte vorbei und stiefelte beherzt in jede Pfütze.
Wie viele Menschen ohne die Tiefe leben!
Warum bringe ich das dann nicht fertig?
Etwa dreißig Millionen Menschen besuchen regelmäßig Deeptown. Sie können als intellektuelle Elite der Gesellschaft bezeichnet werden, als die Spitze aus Wissenschaft und Kunst. Und trotzdem ist es nur eine sehr dünne Schicht. Würden sie alle von heute auf morgen sterben, würde die Welt zwar vor Schmerz aufheulen und erschüttert sein – aber sie würde es verkraften.
Denn letzten Endes sind nicht sie es, die die Welt am Leben halten. Das sind vielmehr Chinesen, die kaum lesen können und am Fließband Computer zusammensetzen. Das sind Hirten, die noch nie in ihrem Leben einen Rechner mit eigenen Augen gesehen haben. Bauarbeiter, die nach getaner Arbeit nach Hause gehen, zu Frau und Kind. Politiker und Geschäftsleute, für die Deeptown nur eine Modeerscheinung ist – denn sie können es sich auch ohne die Tiefe leisten, sich am Strand von Hawaii zu aalen und eine Party für hundert Leute zu schmeißen.
Wir sind eine besondere Kaste. Wir haben Wurzeln in der fiktiven Welt geschlagen und die reale fast vergessen.
Deshalb würden wir die Tiefe um jeden Preis verteidigen.
Denn wir sind ein Teil von ihr.
Das sind nicht meine Gedanken! Das ist das Produkt meiner Deep-Psychose. Jener entzündete Teil meines Hirns, der ohne die Tiefe nicht leben kann, hat sie hervorgebracht. Ich bin durchaus imstande, auf endlose Wälder, einen knallblauen Himmel, den Luxus von Restaurants und, vor allem, auf die Informationen zu verzichten. Dieser kranke Teil in mir nicht.
Der braucht ständig neue Kontakte. Neue Gesichter. Gerüchte und Gerede. Intrigen und Gefahr. Den wahnsinnigen Rhythmus der Tiefe .
Und nur deshalb will ich diesen Kampf bis zum Ende ausfechten, will ich die virtuelle Welt gegen Unheil schützen. Weil die Tiefe es mir befiehlt. Natürlich nicht in wörtlichem Sinne, einen elektronischen Verstand braucht man also gar nicht erst ins Spiel zu bringen, den gibt es nämlich nicht. Nein, vielmehr sind wir zu Neuronen im Bewusstsein der Tiefe , zu Zellen in ihrem Organismus geworden. Und jede Zelle erfüllt ihre Funktion: die Tiefe aufzubauen, für die Tiefe zu denken, andere in die Tiefe zu locken, die Tiefe zu verteidigen.
Künstler und Designer haben nicht umsonst Monate und Jahre daran gegeben, Deeptown zu entwerfen und zu gestalten …
Entwickler und Techniker haben nicht umsonst alles aus den Rechnern herausgeholt, was diese nur hergaben, um Deeptown aufzubauen.
Schriftsteller haben nicht umsonst Bücher geschrieben, in denen sie Deeptown idealisiert und verklärt haben.
Und ich bin ein Phagozyt, eine Fresszelle, dieser elektronischen Welt.
Die einzige Gefahr, die dieser Welt droht, ist die Menschheit selbst. Sollte die Tiefe die Menschen eines Tages wirklich fürchten, wird sie ihre eigenen Zellen abstoßen. Eine nach der anderen.
Früher fürchteten die Besucher Deeptowns nichts mehr, als für immer in der virtuellen Welt zu bleiben. Dort gefangen zu sein und zu verhungern, nachdem sie sich am fiktiven Essen überfressen hatten.
Deshalb hatte es uns gegeben, die Diver. Diejenigen, die die Tiefe jederzeit verlassen und andere aus ihr herausholen konnten.
Doch dann veränderte sich etwas. Niemand weiß, was, warum und wie. Danach ertranken die Menschen nicht mehr, danach brauchte niemand mehr einen Diver. O nein, die Tiefe hatte uns nicht umgebracht – sie hat uns lediglich überflüssig gemacht.
Jetzt ging es jedoch um eine wesentlich ernstere Gefahr. Denn was ist die Furcht, aus eigener Dummheit zu ertrinken, schon gegen die Furcht, ersäuft zu werden?
Echte Angst hat man immer nur vor etwas, das von außen kommt.
Die Tiefe ist bereits vor Schreck zusammengezuckt – und ihre fiktiven Hirne zerbrechen sich den Kopf darüber, warum.
Wer auch immer dieser Dark Diver sein mochte, er hat von der Existenz einer Waffe der dritten Generation erfahren. Romka musste sterben, weil er versucht hat, aus einem Büro das schrecklichste Geheimnis zu klauen, das es in Deeptown gibt. Woraufhin Igel mir die Geschichte von einem toten Hacker erzählt hat …
In den unsichtbaren Adern rauscht das Blut schneller und schneller, die elektronischen Hormone spielen verrückt, schlagen auf alles ein, was uns teuer ist.
Und der
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