Der Fangschuss
harmloses Nachtlicht ruhig weiterbrannte. Sophie atmete hastig; ihr Gesicht war von einer leuchtenden Blässe, was mir bewies, daß sie mich verstanden hatte. Ich habe zusammen mit Sophie noch tragischere Augenblicke erlebt, aber nie wieder einen so feierlichen, da wir so nahe daran waren, Schwüre auszutauschen. Das war ihre Stunde in meinem Leben. Sie hob ihre Hände hoch, an denen der Rost des Balkongitters haftete, auf das wir uns eine Minute vorher beide gestützt hatten; dann warf sie sich, als wäre sie plötzlich verwundet worden, an meine Brust.
Sie hatte zu dieser Geste fast zehn Wochen gebraucht. Daß ich sie annahm, erstaunte mich mehr als alles andere. Jetzt, da sie tot ist und ich nicht mehr an Wunder glaube, ist es mir eine Genugtuung, wenigstens einmal diesen Mund und dieses harte Haar geküßt zu haben. Diese Frau war wie ein großes Land, das ich erobert, aber nie betreten habe. Immerhin erinnere ich mich aufs genaueste an die feuchte Wärme ihres Mundes und an den lebendigen Geruch ihrer Haut. Und wenn ich jemals Sophie in aller Einfalt des Herzens und der Sinne habe lieben können, so war es in jener Minute, da wir uns mit der Unschuld auferstandener Seelen umfaßt hielten. Sie zitterte in meinen Armen. Kein früheres Erlebnis mit einer Prostituierten oder einer sonstigen Zufallsbekanntschaft hatte mich vorbereitet auf diese heftige, diese furchtbare Zärtlichkeit. Dieser in seiner Lust aufgelöste und zugleich erstarrte Körper lastete mit geheimnisvoller Schwere auf meinen Armen, wie die Erde auf mir gelastet hätte, wenn ich vor ein paar Stunden in den Tod gegangen wäre. Ich weiß nicht, in welchem Augenblick das Entzücken in Entsetzen umschlug und bei mir die Erinnerung an jenen Seestern auslöste, den meine Mutter mir als Kind am Strand von Scheveningen gewaltsam in die Hand gedrückt hatte, worauf ich zum größten Schrecken der Badenden in Krämpfe verfiel. Ich riß mich von Sophie los mit einer Roheit, die ihr in seinem Glück so wehrloser Körper als qualvoll grausam empfinden mußte. Sie schlug die schweren Augenlider auf und las in meinen Zügen etwas, das ihr offenbar noch unerträglicher war als Haß oder Schrecken, denn sie bedeckte ihr Gesicht mit ihrem erhobenen Arm wie ein geohrfeigtes Kind. Zum letzten Mal sah ich sie vor mir weinen. Noch zweimal, ehe alles vorbei war, bin ich ohne Zeugen mit Sophie zusammengekommen. Aber von diesem Abend an war alles so, als sei einer von uns beiden bereits tot. Ich hatte jedes Gefühl für sie und sie das Vertrauen zu mir verloren, das sie mir früher, weil sie mich liebte, entgegengebracht hatte.
Was sich noch am ehesten mit den eintönigen Phasen einer Liebe vergleichen läßt, das sind die unermüdlichen und erhabenen Wiederholungen der Beethovenschen Quartette. Während der düsteren Wochen der Adventszeit – und Tante Praskovia, die die Zahl ihrer Fastentage erhöhte, ließ uns keinen Feiertag des Kirchenkalenders vergessen – ging das Leben bei uns mit seinem üblichen Anteil an Elend, Aufregungen und Katastrophen weiter. Ich erlebte oder erfuhr den Tod einiger meiner wenigen Freunde. Konrad wurde leicht verwundet. Von dem dreimal eroberten und zurückeroberten Dorf waren nur ein paar Mauerfetzen übriggeblieben, die unter dem Schnee zerfielen. Sophie war ruhig, entschlossen, hilfsbereit und eigensinnig. Damals schlug Volkmar mit den Resten eines Regiments, das von Wirtz schickte, sein Winterquartier im Schloß auf. Seit Franz von Alands Tod war unser kleines deutsches Hilfskorps tagtäglich mehr und mehr zusammengeschmolzen und schließlich durch ein Gemisch von Balten und Weißrussen ersetzt worden. Ich kannte diesen Volkmar und haßte ihn schon mit fünfzehn Jahren, als man uns regelmäßig dreimal wöchentlich während der Wintermonate in Riga zu einem Mathematikprofessor schickte. Er ähnelte mir wie eine Karikatur ihrem Vorbild. Er war korrekt, trocken, ehrgeizig und eigennützig und gehörte zu jener Sorte Menschen, die zugleich dumm und erfolgreich sind, weil sie jede neue Tatsache nur soweit in Betracht ziehen, als sie ihnen nützen kann, und weil sie ihre Berechnungen auf die immer gleichen Grundgesetze des Lebens stützen. Ohne den Krieg wäre Sophie unerreichbar für ihn gewesen. Er stürzte sich auf diese Gelegenheit. Ich wußte bereits, welchen halb Operettenhaften, halb tragischen Einfluß eine einzelne Frau in einer vollbelegten Kaserne auf die Männer gewinnt. Uns hatte man für Liebende gehalten, was ganz einfach
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