Der Feind
Wagen wie eine Rakete die Gebirgsstraße hinaufschießen. Abel erlaubte sich ein kurzes Lächeln. Das Fahrzeug war ein Meisterwerk westdeutscher Technik. Über ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung zog er im Denken immer noch eine Grenze zwischen Ost und West. Das Land, in dem er aufgewachsen war, hatte niemals eine derart leistungsstarke und gleichzeitig verlässliche Maschine hervorbringen können. Und das war nicht nur ein ostdeutsches Problem. Es gab kein einziges kommunistisches Land, das etwas Derartiges hätte zustande bringen können. Abel hatte sein Geburtsland verlassen und hatte nicht vor, jemals dorthin zurückzukehren. Das hatte eine ganze Reihe von Gründen. Zuallererst wollte er nicht ständig daran erinnert werden, dass er auf der Verliererseite des Kalten Krieges gestanden hatte. Die Wiedervereinigung hatte Ostdeutschland durchaus weitergeholfen, aber es war immer noch ein weiter Weg, bis man den Rückstand aufgeholt haben würde. Es würde noch viel Arbeit notwendig sein, bis man auch hier die Früchte deutscher Wirtschaftskraft würde ernten können.
Abel hatte seine ersten dreißig Lebensjahre mit einer Lüge gelebt, und er hatte nicht vor, auch nur einen einzigen Tag seines Lebens auf die gleiche Weise zu verschwenden. Er war heute Schweizer Staatsbürger, und so wie seine Wahlheimat hatte er eine neutrale, vorwiegend geschäftliche Einstellung gegenüber der Welt angenommen. Kriege kamen und gingen, aber Handel wurde immer getrieben – und wenn beides zusammentraf, ergaben sich daraus große Möglichkeiten. Abel war ganz einfach ein Vermittler, ein Spezialist in Sachen Risikoeinschätzung, und manchmal, wenn es, so wie in diesem Fall, gefragt war, auch in Sachen Risikobeseitigung.
Abel näherte sich der letzten Kehre und bremste den Wagen stark ab. Durch eine Lücke zwischen den Fichten konnte er einen Blick auf den hiesigen Skiort erhaschen. Der Betrieb würde hier erst in einem Monat beginnen. Von Abels Berghaus fuhr man etwa zwanzig Minuten in den Ort hinunter. Die reine Gebirgsluft linderte sein Asthma und die Einsamkeit hier oben wirkte klärend auf den Geist und war außerdem genau das, was ein Mann in seiner Branche von Zeit zu Zeit brauchte.
Er hatte nur kurz gezögert, ehe er Petrow anrief. In seinem Gewerbe musste man alles unter dem Gesichtspunkt analysieren, wie das Verhältnis zwischen Risiko und möglichem Nutzen aussah. Abel verfügte über umfassende Ressourcen, wenn es um einen herkömmlichen Auftrag ging – doch dieser Job setzte besondere Fähigkeiten voraus. Er brauchte jemanden, der außergewöhnlich gut war, den man jedoch im Geschäft noch nicht kannte. Leider hatte er in seiner Kartei niemanden, der alle Voraussetzungen für diesen Auftrag erfüllte. Er war sich jedoch sicher, dass ihm Petrow einen geeigneten Mann nennen konnte.
Abel nahm die letzte Kehre und fuhr schließlich auf die Zufahrtsstraße zu seinem Häuschen auf, die parallel zur Gebirgsstraße verlief. Die Straße, die von hohen Fichten gesäumt war, führte zunächst steil hinunter, um dann relativ eben auszulaufen. Abel bog zu dem Parkplatz ein und stellte sein Auto neben einem Mietwagen ab. Als er aus dem Wagen stieg, sah er auf der Veranda neben der Haustür den Koffer seines Freundes stehen. Er ging um das Haus herum und sah Petrow mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl in der Sonne sitzen.
Ohne auch nur die Augen zu öffnen, fragte der Russe in leicht akzentuiertem Englisch: »Wie lange wolltest du mich denn noch warten lassen, du undankbarer Nazi?«
Abel lächelte und betrachtete den Überrock aus grauer Wolle, den Petrow wie eine Decke über dem Schoß liegen hatte. Mit seinem silberfarbenen Haar sah er aus wie ein Pensionist auf einer Kreuzfahrt. Ein Päckchen Zigaretten lag auf der einen Armlehne und ein abgenutztes Feuerzeug auf der anderen. »Ich beobachte dich schon seit einer Stunde, du altes Stalinistenschwein. Ich dachte mir, dass du entweder tot bist oder ein Nickerchen machst … was in Anbetracht deines Alters beides gut möglich wäre.«
Ein Auge in dem breiten Gesicht öffnete sich, und Petrow begann eine Schimpfkanonade auf Russisch loszulassen. Abels Russisch war nie besonders gut gewesen und mit der Zeit noch schlechter geworden, doch er verstand trotzdem ziemlich gut, was sein Freund ihm sagen wollte. Es ging um Unzucht mit Hunden, um Abels Herkunft und einige weitere Hinweise auf Deutschlands Nazi-Vergangenheit.
Abel lachte ausgelassen und sagte schließlich: »Bist du
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