Der Feind
schon zu alt, um aufzustehen und einen alten Freund zu begrüßen? Soll ich dir vielleicht aufhelfen?« Abel streckte mit einer theatralischen Geste die Arme aus. »Oder soll ich vielleicht eine Krankenschwester rufen?«
»Ich breche dir deine hübsche kleine Nase, wenn du mich anrührst«, brummte Petrow und schwang sich mit überraschender Leichtigkeit aus dem Sessel.
Die beiden Männer umarmten sich, und Abel versuchte einmal mehr, seinem russischen Freund genauso energisch auf den Rücken zu klopfen, wie Petrow es bei ihm machte, was ihm jedoch auch diesmal nicht gelang. Die beiden waren etwa gleich groß, doch der Russe war sicher mehr als zwanzig Kilo schwerer. Petrow war einundsechzig Jahre alt, sah aber aus wie siebzig. Sein silberfarbenes Haar, das Rauchen, die Liebe zu ungesundem Essen und hochprozentigen Getränken, gewiss aber auch der Stress in seinem Beruf hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Komm«, forderte Abel ihn auf, »gehen wir hinein. Ich habe alles eingekauft, was du magst.« Die beiden Männer gingen zur Haustür und Abel sperrte auf. »Du weißt ja, wo dein Zimmer ist. Bring erst mal deine Sachen hinein, ich kümmere mich um alles andere.«
Abel trug seinen eigenen Koffer ins Haus und holte dann drei Einkaufstüten aus dem Kofferraum. Als Erstes nahm er die Flasche Belvedere-Wodka und stellte sie in den Gefrierschrank. Es bestand durchaus die Chance, dass sein Freund die Flasche geleert hatte, bevor sie zu Bett gingen. Abel dachte an sein Asthma und öffnete einige Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Als Nächstes stellte er je einen Sixpack Gösser- und Kaiser-Bier in den Kühlschrank. Falls Petrow damit noch nicht zufrieden war, konnte man immer noch auf die Weinvorräte im Keller zurückgreifen. Schließlich verstaute er auch noch den eingelegten Hering, den Räucherschinken, die Wurst, das Gemüse und den Kuchen im Kühlschrank.
Petrow erschien wie aufs Stichwort, und Abel reichte ihm eine Flasche Gösser. Er selbst nahm sich ein Kaiser und hielt seinem Freund die Flasche hin, um mit ihm anzustoßen. »Auf alte Freunde und freie Märkte.«
Petrow nickte und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Er wollte etwas sagen, ließ es dann aber bleiben und nahm stattdessen noch einen Schluck. »Darauf habe ich den ganzen Nachmittag gewartet.«
»Tut mir leid, dass ich nicht früher hier war, aber ich bin erst heute Nachmittag mit dem Flugzeug angekommen.« Abel blickte auf die Uhr; es war fast fünf.
»Wo warst du denn?«, fragte der Russe zwischen zwei kräftigen Zügen. Er hatte sein Bier schon zur Hälfte geleert.
Abel wollte schon antworten, hielt dann aber inne und sagte stattdessen: »Frag mich lieber, wo ich nicht war.« Er öffnete eine Packung Nüsse und schüttete sie in eine Schüssel. Bei Petrow ging es vor allem darum, ihn stets mit Speis und Trank bei Laune zu halten.
»Du hast mal wieder die Dreckarbeit für die OPEC gemacht.«
Die Organisation Erdöl exportierender Staaten mit Sitz in Wien war bei Weitem Abels größter Kunde. »Jeder ist darauf angewiesen, Informationsmaterial zu sammeln. Sogar die russische Mafia.« Abel spielte damit auf die Tatsache an, dass Petrow gelegentlich auch von dieser Seite Aufträge annahm.
»Na ja, das ruhmreiche Experiment des Kommunismus ist vorbei, und jetzt müssen wir für uns selbst sorgen.«
»Auf die Selbstständigkeit und den Kapitalismus.« Abel erhob sein Bierglas.
»Auf die Selbstständigkeit trinke ich gern, aber auf den Kapitalismus nie im Leben. Diese Schweine sind über mein Land hergefallen wie die Aasgeier, um sich an seinem Kadaver zu mästen und die Schwachen auszubeuten.«
Abel lachte. »Und was haben die Kommunisten gemacht?« Es war dies ein Streitgespräch, das sie immer wieder führten und das Abel noch nie verloren hatte. Der Kapitalismus war bei all seinen Nachteilen immer noch bei Weitem vorzuziehen. Wenn Petrow etwas mehr getankt hatte, gab er seinem Freund dann auch meistens recht. Er würde Abel damit drohen, ihn umzubringen, wenn er es irgendjemandem erzählte, worauf er dann eine Tirade über die korrupten Kommunisten starten würde, die eine großartige Idee ruiniert hätten.
Petrow murmelte irgendetwas von wegen Gier und der zerstörerischen Wirkung von starren Dogmen. Abel ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Geh doch mal hinaus und rauche eine Zigarette«, forderte er ihn auf. »Ich mache inzwischen das Essen fertig. Hier, nimm schon mal den Hering. Ich hab ihn extra für dich
Weitere Kostenlose Bücher