Der Feind
kleine Kneipe, wo er bei einem Glas Bier über die plötzliche Wendung nachdachte, die sein Leben soeben genommen hatte. Er fragte sich auch, wie sie reagieren würde, wenn sie den Namen hörte, wenngleich er es sich schon vorstellen konnte; immerhin kannte er sie mittlerweile ziemlich gut. Als es Mitternacht schlug, beschloss er, dass er es nicht länger hinausschieben konnte. Er war sich ziemlich sicher, dass ihm niemand gefolgt war, und so trank er sein Bier aus und machte sich auf den Weg in die Wohnung.
Sie war noch wach und wartete, wie immer, auf ihn. Unter der ruhigen Oberfläche war sie absolut angespannt und hellwach. Sie wusste, dass er nicht leichtsinnig war, auch wenn er auf einem schmalen Grat wandelte. Es war einfach so, dass sie eben kein gewöhnliches Leben führten. Sie warf ihr Buch und die Decke zur Seite, sodass eine schallgedämpfte Glock-Pistole zum Vorschein kam. Sie befand sich in einer gewissen Alarmbereitschaft, so wie er es ihr nahegelegt hatte. Sie waren solche Abläufe so oft durchgegangen, dass es zu etwas völlig Selbstverständlichem geworden war. Trotz der späten Stunde war sie nicht im Bett; sie war mit Jeans und einem engen Sweater bekleidet und hatte zwei Rucksäcke mit dem Notwendigsten gepackt, die bei der Tür standen. Sie mussten stets bereit sein, das Weite zu suchen, wenn es die Situation erforderte.
Sie stand auf, kam auf ihn zu und umarmte ihn. »Louie, warum musst du mich immer warten lassen?«, flüsterte sie ihm auf Französisch ins Ohr. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Er hatte viele Namen, aber derjenige, den er bei seiner Geburt bekommen hatte, war Louis-Philippe Gould. Doch dieser Teil seines Lebens war für ihn so weit weg wie antike Geschichte. Sie war der einzige Mensch, der ihn mit seinem richtigen Namen ansprach. Er legte ihr sanft eine Hand auf den Hinterkopf, während er die andere Hand an ihre nackte Hüfte gleiten ließ. Augenblicklich spürte er die Regung zwischen den Beinen. Er war mit vielen Frauen zusammen gewesen – so vielen, dass er es nicht mehr hätte zählen können –, aber sie übertraf sie alle.
»Wie ist es gelaufen?«, flüsterte sie.
Er küsste sie auf den Scheitel und atmete den Duft ihres frisch gewaschenen Haars ein. »Ich glaube, wir müssen eine Flasche Wein aufmachen.« Der Sex würde später kommen.
Sie hob den Kopf und trat einen Schritt zurück. »So schlimm?«
Er zuckte die Achseln. »Schlimm würde ich nicht sagen … nur …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn in die kleine Küche. Sie war eine gute Zuhörerin. »Ich hole die Gläser, du holst die Flasche.«
Die Zweizimmerwohnung war möbliert, und sie hatten für die ersten sechs Monate in bar bezahlt. Sie waren erst acht Tage hier und würden morgen früh aufbrechen. Die Chancen, dass sie jemals hierher zurückkehrten, waren eher gering. An den Wänden hingen ein paar billige Bilder, und die Einrichtung bestand aus einer Couch, einem Sessel und einem Fernseher, der nicht funktionierte. Im Schlafzimmer stand ein Bett, das kaum groß genug für sie beide war, und eine wackelige Frisierkommode. Die Küche war ungefähr dreißig Jahre alt, doch das alles machte ihnen nicht das Geringste aus. Sie waren es gewohnt, ein Leben ohne materiellen Besitz zu führen. Sie hatten zusammen die Welt bereist, hatten in Hotelzimmern gehaust, die von Kakerlaken verseucht waren, und in Dörfern gewohnt, die vom Krieg verwüstet waren. Heißes Wasser in der Unterkunft war für sie schon ein Luxus, alles andere war sowieso nebensächlich. Er war zweiunddreißig und sie neunundzwanzig. Sie waren immer noch jung genug, um sich eines Tages auch die schönen Dinge des Lebens zu gönnen, aber dafür war die Zeit noch nicht gekommen. Luxus stumpfte die Instinkte ab, und sie benötigten im Moment die schärfsten Instinkte, um ihren Job zu machen.
Sie saß auf der Couch, während er die Flasche Rotwein öffnete. Der Weg, der Louie zu seinem gegenwärtigen Beruf geführt hatte, war ziemlich ungewöhnlich, aber er vermutete, dass es bei seinen Kollegen nicht viel anders war. Man wachte schließlich nicht eines Morgens auf und beschloss, ab jetzt als Auftragskiller sein Geld zu verdienen. Sein Vater stammte aus vermögenden Verhältnissen, nachdem es seine Vorfahren stets verstanden hatten, sich bei den oft wechselnden herrschenden Gruppen des Landes einzuschmeicheln. Die Goulds waren eine Familie von
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