Der feine Unterschied
Der erweiterte Kader, aus dem sich am Schluss die 23 Mann rekrutieren, die Deutschland in Südafrika vertreten werden, ist plötzlich nur noch 24 Mann groß, und für einen Augenblick lang herrscht betretene Stimmung im Camp, als Andreas Beck vom Bundestrainer die Mitteilung bekommt, dass ausgerechnet er es ist, für den kein WM-Ticket mehr gelöst werden kann.
Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger gewöhnen sich im zentralen Mittelfeld so schnell aneinander, dass es bald so aussieht, als wären sie als Zwillinge im Geist geboren. Mesut Özil spielt Bälle, die so elegant sind wie die Klamotten von Strenesse, die wir für unsere offiziellen Auftritte bekommen. Manuel Neuer strahlt im Tor die Ruhe eines großen Routiniers aus.
Ich bin 26, einer der Ältesten dieser Mannschaft und seit sechs Jahren dabei. Aber noch nie habe ich in der Vorbereitung auf ein Turnier eine Mannschaft erlebt, die so talentiert, so engagiert, so gut drauf ist. Nominell müssen wir zwar Mängel verwalten, aber ich habe kein schlechtes Gefühl. Als mich in Südafrika ein Journalist fragt, wie ich die Qualität dieser jungen, ersatzgeschwächten Mannschaft einschätze, antworte ich wahrheitsgemäß: »Das ist die beste Deutsche Nationalelf, in der ich je gespielt habe.«
Die verblüffte Gegenfrage lautet: »Ist das Ihr Ernst?« Schließlich müssen wir auf einige Stammspieler verzichten. Die Mannschaft, die zum Eröffnungsspiel gegen Australien auflaufen wird, wird noch nie in dieser Aufstellung zusammen gespielt haben.
Aber auch wenn die Fakten gegen mein Gefühl sprechen: ich sehe während des Trainings die Qualität unserer Spieler, wie sie sonst niemand sieht. Wir haben Spieler, die ins Dribbling gehen und jederzeit den entscheidenden Pass spielen können. Wir entwickeln auf vielen Positionen Torgefahr, zum Teil auf ganz unkonventionelle Weise. Da sind Spieler, die etwas Überraschendes, Kreatives machen können und auf diese Weise Räume öffnen und eingefahrene Spielsituationen über den Haufen werfen. Hatten wir vor vier Jahren bei der WM in Deutschland mit Bernd Schneider einen »Brasilianer«, haben wir jetzt fünf, sechs, sieben, acht. Genau das hat uns in den letzten Jahren immer gefehlt.
Noch 2008 bestand die Qualität dieser Mannschaft vor allem darin, dass sie schwer zu schlagen war. Aber wir hatten kaum die Mittel, um selbst einen Gegner an die Wand zu spielen.
Jetzt, noch vor dem ersten Spiel, ist mir klar, dass sich das geändert hat. Noch immer ist es nicht einfach, uns zu schlagen. Aber jetzt können auch wir guten Fußball spielen, weil wir die richtigen Spieler dafür haben. Begeistert schaue ich zu, wie der Ball im Training mit ein paar Kontakten nach vorne gespielt wird, wie die Mannschaft Tempo aufnimmt und vorne im eins zu eins die gegnerische Verteidigung unter Druck setzt. Ich sehe großartige Spielzüge und geniale Einfälle. Ich sehe fantastische Dribblings. Das ist kein Zufall. Spieler wie Mesut Özil, Toni Kroos, Thomas Müller sind eine Frischzellenkur für unser Team.
Es ist Zeit, den Begriff der »deutschen Tugenden« neu zu definieren. Während Jahrzehnten bestand die Kraft der Deutschen Nationalelf darin, bei Standardsituationen gefährlich und in der Defensive aufmerksam zu sein. Jetzt kommen Kreativität im Spielaufbau und die Aktionen großartiger Einzelspieler dazu.
Noch bevor wir unser erstes Spiel absolviert haben, bin ich fest davon überzeugt, dass diese Mannschaft nicht in der Vorrunde scheitern wird. Das Tempo, der Wille, die im Training zu sehen sind, der Hunger, bei der WM auf dem Platz zu stehen, die Entschlossenheit, die Chance, die sich plötzlich eröffnet, auch zu nutzen. Die Spieler vom FC Bayern brachten nach einer fast vollendeten Champions-League-Saison noch eine Ex-traportion Selbstvertrauen mit, und das vermengte sich mit den anderen Eigenschaften der Nationalmannschaft: Schnelligkeit der Gedanken, Spielintelligenz, kontrollierte Leidenschaft. Eine fabelhafte Mischung.
Letztes Testspiel in Frankfurt gegen Bosnien-Herzegowina, wir gewinnen 3:1. Die erste Halbzeit ist mau, die zweite klasse. Ich schieße eines meiner seltenen Länderspieltore. Nach dem Spiel haben wir noch mal zwei Tage frei, fahren nach Hause, schlafen aus, atmen durch. Dann steigen wir in den Jumbo der Lufthansa, der uns von Frankfurt nach Johannesburg bringt. Fünf Tage später beginnt für uns die Weltmeisterschaft mit dem Spiel gegen Australien.
Der Bundestrainer holt in diesen Tagen immer wieder Basti und
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