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Der feine Unterschied

Titel: Der feine Unterschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philpp Lahm
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Klose den Ball mit dem Außenrist in die Tiefe spielt - so etwas gelingt normalerweise nur beim Bolzen im Englischen Garten, aber nicht in der K.o.-Phase einer Weltmeisterschaft.
    Und Thomas Müller. Zwanzig Jahre alt. Er hat seine erste Saison bei den Profis vom FC Bayern hinter sich und hat bereits in einem Champions-League-Finale gestanden. Er liebt das Konterspiel, er geht bei jedem Angriff mit hundertprozentiger
    Überzeugung mit, weil er weiß, dass er sich gegen jeden Widerstand freilaufen kann.
    Wer Thomas Müller beim Fußballspielen zuschaut, weiß, was Talent bedeutet. Er muss nicht darüber nachdenken, wo er sich zu postieren hat, um dem Gegner das Verteidigen schwer zu machen. Er hat es im Blut, er weiß es einfach. Bevor der Verteidiger, der auf ihn aufpassen soll, sich einmal umgedreht hat, ist Thomas schon wieder ganz woanders. Er lungert die längste Zeit irgendwo rum, und dann ist er frei, und wenn er dann den Ball bekommt, haut er ihn in der Regel mit aller Unbekümmertheit rein.
    Mir ist diese ganz spezifische Fähigkeit zum ersten Mal aufgefallen, als wir in der Vorbereitung auf die erste Van-Gaal-Sai-son mit dem FC Bayern ein Freundschaftsspiel spielten. Thomas kam damals frisch gefangen von den Amateuren, und als ich links durchging und eine Anspielstation suchte, sah ich, wie er sich gerade von seinem Verteidiger wegschlich — schleichen ist genau das richtige Wort für seine Art, sich anzubieten. Ich spielte ihm dann den Ball zu, und Thomas machte das Tor, und ich dachte mir, oha, da kommt einer mit einem Bärentalent, der wird uns noch viel Freude machen.
    Selten habe ich so fassungslose, begeisterte Journalisten gesehen wie nach dem Spiel gegen England. Hurra! Sie suchen nach Worten, um zu beschreiben, wie super es sich anfühlt, England geschlagen zu haben und noch dazu auf diese Weise. Mir geht es genauso, als ich den englischen Journalisten Interviews gebe — auf englisch. In den Zeitungen erscheinen am nächsten Tag auch nur Spielberichte, die eigentlich als Gedichte durchgehen würden oder - wie hieß das im Mittelalter: Minnegesänge?
    Auch bei uns kursiert das Kichern aus der ersten Halbzeit. Aber während wir noch mit einem Auge das gerade gewonnene
    Spiel betrachten, schauen wir mit dem anderen bereits auf unseren nächsten Gegner. Der wird abends im Spiel Argentinien gegen Mexiko ermittelt. So ist Fußball: ein ständiges Schielen auf das, was war, und das, was kommt.
    Argentinien ist mit Brasilien und Spanien einer der ganz großen Favoriten auf den Weltmeistertitel. Jede Mannschaft, die einen Spieler wie Lionel Messi in den Reihen hat, zählt zu den Favoriten auf den Titel. Und neben Messi laufen in der Offensive überragende Einzelkönner wie Carlos Tevez, Gonzalo Higuain, Maxi Rodriguez oder Angel Di Maria auf.
    Im März haben wir in München sang- und klanglos gegen Argentinien verloren. Das Ergebnis von 0:1 war noch das Beste an diesem Spiel.
    Aber wir haben unsere Lehren daraus gezogen.
    Nach der Analyse sämtlicher Daten steht vor allem eines fest: Argentinien hat blendende Individualisten, funktioniert aber nicht als Mannschaft. Sobald das Team angreift, sind fünf Spieler beteiligt, aber die anderen fünf stehen mit Abstand dahinter. Die Mannschaftsteile sind viel zu weit voneinander entfernt. Wenn du den Ball eroberst und an der argentinischen Offensive vorbeispielst, stehst du nur noch gegen fünf Argentinier, weil die Offensive nicht mehr mitläuft und ihre Verteidiger unterstützt: so kannst du relativ schnell Situationen her-stellen, in denen deine Mannschaft in Gleichzahl oder sogar Überzahl auf das gegnerische Tor zukommt.
    Die Voraussetzung dafür ist Schnelligkeit. Schnelligkeit im Kopf und Schnelligkeit im Konterspiel. Die ganze Mannschaft muss überfallartig angreifen, und die ganze Mannschaft muss bei Ballverlust augenblicklich entschlossen verteidigen, vom Stürmer bis zum Innenverteidiger.
    Wir trainieren diese Spielweise in den Tagen vor dem Argentinien-Spiel ganz intensiv. Ballgewinn in der Defensive, schnelles Durchspielen an den gegnerischen Spitzen vorbei, Herstellen von Überzahl, indem Außenverteidiger und Mittelfeldspieler mit in den Angriff gehen, Abschluss, sofortiges Umschalten auf Defensive.
    In den Taktikbesprechungen laufen Videoclips der besten Argentinier. Tevez. Di Maria. Messi. Messi. Messi. Szenen, in denen Messi tanzt und super Gegenspieler schlecht aussehen lässt. Dann die Analyse: Warum kommt es so weit, dass Messi tanzen kann?

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