Der ferne Spiegel
wollte Navarra absetzen, eine weitere dem Regenten die Stadt übergeben; alle waren getrieben vom Haß gegen die englischen Kompanien, die erbarmungslos die Vorstädte verwüsteten. Die schwindende Unterstützung zwang Marcel, sich bewaffnete Hilfe in die Stadt zu holen. In dieser Lage unternahm er
einen Schritt, der die öffentliche Meinung vollends gegen ihn kehrte. Am 22. Juli erlaubte er Navarra, eine Abteilung englischer Reiter in die Mauern zu bringen. Wütende bewaffnete Bürger stürzten sich aber mit einer solchen Erbitterung auf sie, daß sie zu ihrem eigenen Schutz im Louvre eingesperrt werden mußten.
Mittlerweile befürchteten aber auch die wohlhabenden Bürger, daß alle Bewohner von Paris gleichermaßen Strafe und Plünderung unterworfen würden, wenn der Regent die Stadt einnahm. Da es aber unmöglich war, Marcel zur Übergabe der Stadt zu bewegen, beschlossen sie, ihn aus dem Weg zu räumen, denn es sei »besser zu töten als getötet zu werden«. Es ist auch möglich, daß sie Gerüchten von einem Verrat des Vorstehers Glauben schenkten. [Ref 198]
Marcels Stunde schlug am 31. Juli, als er am Stadttor von St. Denis erschien und den Wachen befahl, die Schlüssel an die Offiziere Navarras zu übergeben. Die Wachen wiesen dieses Ansinnen zurück und schrien: »Verrat!« Waffen blitzten auf, und ein offensichtlich vorbereiteter Textilkaufmann entrollte das königliche Banner, bestieg sein Pferd und ließ den königlichen Schlachtruf »Montjoie – St. Denis!« ertönen. Das Volk wiederholte den Schrei, Zusammenstöße und verworrene Alarmrufe waren die Folge. Kurz darauf tauchte Marcel am anderen Ende der Stadt am Tor von St. Antoine auf, wo er wiederum die Schlüssel verlangte. Sie wurden ihm verweigert, die Wachen von St. Antoine stürzten sich auf den Vorsteher, und als das Durcheinander sich beruhigt hatte und die blutigen Waffen wieder in ihren Scheiden steckten, lag die Leiche von Etienne Marcel zertrampelt auf der Straße.
Zwei seiner Begleiter wurden ebenfalls getötet, andere wurden entkleidet, geschlagen und nackt an der Stadtmauer zurückgelassen. »Danach eilte das Volk von dannen, um andere zu finden, die es ebenso behandeln wollte.« Viele der Anhänger Marcels wurden ermordet und nackt auf die Straße geworfen. Während Karl von Navarra nach St. Denis entkam, übernahm die royalistische Anhängerschaft die Kontrolle der Stadt. Am 2. August 1358 öffnete sie dem Regenten die Tore.
Er sprach sofort einen Gnadenerlaß für alle Pariser Bürger aus, mit Ausnahme enger Verbündeter Marcels und Karls von Navarra, die entweder hingerichtet oder verbannt wurden. Die Volkspartei
war aber noch stark genug, um wütende Demonstrationen zu organisieren, als mehr und mehr Anhänger Marcels festgenommen wurden. Die Lage in der Stadt war undurchsichtig und gefährlich. Am 10. August verkündete der Regent eine Generalamnestie und befahl den Bauern und Adligen, sich zu versöhnen, damit das Land bestellt und die Ernte eingebracht werden konnte. Die Ausrottung der Jacques machte sich wirtschaftlich bemerkbar.
Mit dem Tode Marcels war die Reformbewegung gescheitert; das Aufblitzen der »Gerechten Regierung« war nur ein Wetterleuchten geblieben. Nach Artevelde und Rienzi war Marcel der dritte Anführer einer bürgerlichen Erhebung innerhalb von zwölf Jahren, der von den eigenen Anhängern getötet worden war. Das Volk von Frankreich war noch nicht reif für den Versuch, die Macht der Monarchie zu begrenzen. Alle seine Schwierigkeiten – die überhöhten Steuern, die ungerechte Regierung, die Geldentwertung, die militärischen Niederlagen, das Brigantentum und den ganzen schlechten Zustand des Königreiches – lasteten sie schlechten Ratgebern und den schurkischen Adligen an, nicht dem König – der tapfer in Poitiers gekämpft hatte –, nicht einmal dem Thronfolger. Aus Marcels Tod erwuchs keine politische Bewegung. Das Recht der Stände, sich nach eigenem Gutdünken zu versammeln, ging verloren, die Große Verfügung wurde zum größten Teil, wenn auch nicht völlig, außer Kraft gesetzt. Die Krone steuerte auf die Epoche des königlichen Absolutismus zu, die die Geschichte für sie bereithielt. [Ref 145]
Obwohl der Regent Paris hielt, war er von Feinden umgeben. Von St. Denis aus verkündete Karl von Navarra offenen Widerstand und erneuerte sein Bündnis mit England. »Grausam und schändlich« wüteten die navarresischen und englischen Kompanien weiterhin im Land. Einzelne Gruppen von
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