Der ferne Spiegel
drang noch mit den letzten Atemzügen in sie, die Steuern aufzuheben: »Erlaßt sie, so schnell ihr könnt.« Bureau de la Rivière, der in Tränen am Bett kniete, umarmte den König; die schluchzende Menge verließ den Raum, damit der König seine letzten Minuten in Frieden verbringen konnte. Er starb am 16. September 1380, und sein letzter Erlaß wurde am nächsten Tag verkündet. Der Jubel des Volkes auf der einen und die widersprüchlichen Gefühle der Königsbrüder auf der anderen Seite deuteten die explosive Situation an, die nun geschaffen war. [Ref 286]
In der Bretagne wurde Buckingham im selben Monat mit gemischten Gefühlen empfangen. Montfort, dessen ganzes Leben darin bestand, Feinde gegeneinander auszuspielen, zu streiten, zu kämpfen und mit allen Seiten Verträge abzuschließen, war ein gewohnheitsmäßiger Intrigant. Nach Karls Tod war er bereit, mit dem neuen König Frieden zu schließen, und eröffnete Verhandlungen mit den Franzosen, während er zur gleichen Zeit einen mit vielen Eiden bekräftigten Pakt mit Buckingham schloß, gemeinsam Nantes zu belagern. Letztlich bewog das Zögern der bretonischen Adligen, einen Angriff auf ihre Landsleute zu unterstützen, ihren Herrn, sich für Frankreich zu entscheiden. Coucy, der sich sehr für eine Versöhnung mit den Bretonen eingesetzt hatte, war einer der Unterhändler, der den Vertrag vom Januar 1381 mit Montfort schloß. Buckingham war von seinem Verbündeten nicht informiert
worden und fand nun Burgen und Städte verschlossen. Den ganzen Winter hindurch zog seine hinfällige Armee von einem Ort zum anderen, häufig hungernd und ohne Schutz vor der Kälte. Außer einigen wenigen Plündereien und Lösegeldern hatten Buckingham und seine Kampfgenossen kein militärisches Ziel erreicht – »zu ihrem großen Ungenügen und zum Ungenügen der ganzen englischen Nation«. [Ref 287]
Auf den Thronen beider Königshäuser saßen nun Kinderkönige, und beide Völker hatten unter der Regentschaft ehrgeiziger und einander befehdender Onkel zu leiden, die, da sie keine Krone trugen, die Macht ohne das Verantwortungsgefühl gekrönter Häupter ausübten. Der Kriegslärm schwand, die inneren Spannungen aber erreichten den Siedepunkt.
KAPITEL 18
Die Würmer der Erde gegen die Löwen
S oll er zum Teufel gehen! [Ref 288] Er hat lange genug gelebt«, rief ein Arbeiter aus, als er vom Tod des Königs hörte. »Für uns wäre es besser gewesen, wenn er vor zehn Jahren gestorben wäre.« Innerhalb weniger Monate nach dem Tod des Königs erlebte Frankreich die Explosion des Arbeiteraufstands, der schon Florenz und Flandern heimgesucht hatte. Neben den drückenden Steuern waren ein wachsender Haß der Armen auf die Reichen und die Forderung nach mehr Rechten für die Arbeiterklasse die Impulse der Erhebung. Die Konzentration des Reichtums hatte sich im 14. Jahrhundert beschleunigt und den relativen Anteil der Armen an der Bevölkerung emporschnellen lassen, während die Katastrophen des Jahrhunderts diese Armen zugleich am härtesten trafen. Die Armen waren regierbar geblieben, solange durch Mildtätigkeit und öffentliche Maßnahmen ihr Existenzminimum garantiert war, aber die Lage wandelte sich, als die Bevölkerung der Städte durch die von Krieg und Pest Entwurzelten steil anstieg.
Während die Meister immer reicher wurden, sanken die Arbeiter auf den Stand von Tagelöhnern mit wenig Aussicht auf ein Fortkommen. Die Mitgliedschaft in den Gilden und Zünften war den wandernden Gesellen verschlossen und unter komplizierten Bedingungen nur für Söhne und Verwandte der Meisterklasse reserviert. Obligatorische religiöse Feiertage, zwischen 120 und 150 im Jahr, drückten auf die Löhne. Obwohl ihnen der Streik verboten war und sie sich in einigen Städten nicht einmal versammeln durften, bauten die Arbeiter Vereinigungen auf, um höhere Löhne zu erzwingen. Diese Vereinigungen zogen Beiträge ein, verwalteten ihre Gelder und hielten Verbindungen sogar ins Ausland aufrecht,
durch die den Mitgliedern Arbeit und Wohnung vermittelt wurden, die aber zugleich zweifellos der Verbreitung der politischen Agitation dienten.
Das Bewußtsein, eine Klasse – das »Volk« – zu sein, wuchs. Christus wurde häufig als ein Mann des Volkes dargestellt, und Fresken zeigten ihn umgeben von den Werkzeugen des Handwerkers oder des Bauern, dem Hammer, dem Messer, dem Pflug und der Axt. In Florenz nannten sich die Arbeiter il popolo di Dio (das Volk Gottes). »Viva il popolo« war der
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