Der ferne Spiegel
verbrannte Steuerämter, griff Steuereintreiber tätlich an und jagte sie aus der Stadt.
Die Regierung in Paris war indessen halb gelähmt durch einen unübersichtlichen Machtkampf in der Umgebung des Throns. Als ältestem Onkel kam offiziell dem Herzog von Anjou der Titel des Regenten zu, und er brauchte ihn, um soviel Geld als möglich aus der Schatzkammer des Königs an sich zu bringen. Karl V. war sich der räuberischen Instinkte seiner Brüder wohlbewußt gewesen und hatte verfügt, daß die Regentschaft enden sollte, sobald sein Sohn das Alter von vierzehn Jahren erreichte, aber er war zwei Jahre zu früh gestorben. Er hatte seinen Bruder, den Herzog von Burgund, und den Bruder seiner Frau, den Herzog von Bourbon, zu den Vormündern seines Sohnes ernannt. Unter dem Herzog von Anjou als Regenten sollten sie mit Hilfe eines Rates der Zwölf regieren. Bourbon, der keine Ambitionen hatte und sich aus den Intrigen am Königshof heraushielt, wurde der »Gute Herzog« genannt, in feiner Unterscheidung von den väterlichen Onkeln des Königssohnes, aber er hatte weit weniger Einfluß als sie, da er nicht königlichen Geblüts war. [Ref 289]
Die auseinandergehenden Interessen der Onkel – Burgund in Flandern, Anjou in Italien, Berry an seiner Sammelleidenschaft – verhinderten jedes gemeinsame Interesse am Zusammenhalt des Königreiches. Ihr einziges gemeinsames Ziel war es, die Minister des toten Königs aus ihren Machtstellungen zu drängen.
Clisson wurde zum Constable ernannt, und man bereitete eilig die Krönung des Dauphins vor, um die Autorität der Regierung zu stärken. Eine häßliche Szene befleckte diese heilige Zeremonie der Monarchie am 4. November. An der Bankettafel gerieten der Herzog von Anjou und sein Bruder, der Herzog von Burgund, die einander haßten, in ein Handgemenge um den Ehrenplatz zur Rechten des neuen Königs. In dem Tumult der Parteigänger der beiden und unter den Klagen der Prälaten wurde hastig ein Rat zusammengerufen,
der zugunsten des Herzogs von Burgund als höchstem Fürsten von Frankreich entschied, woraufhin sich der Herzog von Anjou nichtsdestoweniger auf den Ehrenplatz setzte, nur um von Philipp dem Kühnen, dem Herzog von Burgund, wieder beiseite gestoßen zu werden. Mit dieser kläglichen Darbietung begann die Herrschaft des neuen Königs.
Der zwölfjährige Karl VI. war ein gutaussehender, wohlgestalteter Junge, groß und blond wie sein Großvater, aber er hatte ein ausdrucksloses Gesicht, das seine Seelenlosigkeit spiegelte. »Glänzende und polierte Waffen erfreuten ihn mehr denn alle Edelsteine dieser Welt«, und er verehrte die Rituale des Rittertums. Schon bei der Krönung wurden sie zur Schau gestellt, als Coucy, Clisson und Admiral de Vienne, alle drei prächtig gekleidet, zu Pferd den König bedienten. Um dem Einzug des Königs in Paris höchste Wirkung zu verleihen, den größtmöglichen éclat zu verursachen, wurden neue »Wunder« konstruiert, künstliche Brunnen, aus denen Milch, Wein und klares Wasser flossen. Drei Tage lang wurden glänzende Festlichkeiten auf den mit Wandteppichen geschmückten Plätzen der Stadt abgehalten. Dies allein aber konnte das Volk nicht beruhigen. Für den 14. November waren die Generalstände einberufen worden, um einen Ersatz für die von Karl V. aufgehobene Haushaltssteuer zu schaffen, eine Aussicht, die die Angst vor neuen Auflagen erhöhte. Aufgeregte Gruppen von Handwerkern diskutierten über die Lage, geheime Treffen bei Nacht wurden abgehalten, große Versammlungen rügten unverhüllt die Regierung, das Volk war »erzürnt und von der glühenden Sehnsucht bewegt, endlich das Joch der drückenden Steuerzahlungen abzuwerfen«.
Als der Kanzler Miles de Dormans, Bischof von Beauvais, die Stände davon in Kenntnis setzte, daß der König die finanzielle Unterstützung des Volkes erwarte, kam es zu dem voraussehbaren Ausbruch. Eine große Gruppe von Gemeinen drang in die Versammlung der Kaufleute ein, die zwar auch gegen die »Unterstützung« waren, sich aber nicht entschließen konnten, offen Widerstand zu leisten. » Wisset, Bürger, wie ihr verachtet werdet!« schrie ein Flickschuster in leidenschaftlicher Rhetorik auf. Die ganze Erbitterung der Kleinen gegen die Großen lag in seiner Tirade auf die »endlose Gier der Seigneurs«, die »dir alles nehmen würden, wenn
sie könnten, selbst deinen Anteil am Tageslicht«. »Sie wollen nicht, daß wir atmen oder sprechen oder ein menschliches Gesicht haben, sie wollen uns
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