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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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nicht in der Öffentlichkeit begegnen . . . Diese Männer, denen wir erzwungenen Dienst leisten und die von unserer Substanz leben, haben keinen anderen Gedanken, als sich mit glitzernden Juwelen und mit Gold zu schmücken, sich wunderschöne Paläste zu bauen und neue Steuern zu erfinden, um die Stadt niederzudrücken. « Er verhöhnte die Feigheit der Kaufleute und erinnerte an die standhaften Bürger von Gent, die in eben diesem Moment ihrem Grafen in Waffen gegenüberstanden, weil sie sich seine Steuern nicht länger gefallen lassen wollten.
    Wenn die Redegewandtheit des Flickschusters zum Teil das Werk des Mönchs von St. Denis ist, der die Rede niederschrieb, so zeigt auch das die Sympathie vieler geistlicher Chronisten mit dem Los des Volkes. In seiner berühmten Prophezeiung hatte der Bruder Jean de Roquetaillade den Tag kommen sehen, an dem »die Würmer der Erde aufs grausamste die Löwen, [Ref 290] Leoparden und Wölfe vertilgen . . . und die kleinen gewöhnlichen Menschen alle Tyrannen und Verräter vernichten werden«.
    Für den Flickschuster und seine dreihundert Genossen war dieser Tag da. Mit gezogenen Messern zwangen sie den Vorsteher der Kaufleute, ihre Forderung auf Abschaffung aller Steuern dem Herzog von Anjou und dem Kanzler zu überbringen. Vor dem Marmortisch im Palasthof bat der Vorsteher um die Aufhebung der »unerträglichen Last«. Mit »schrecklichem Geschrei« bekräftigte die Menge seine Worte, Schwüre wurden laut, daß sie lieber tausend Tode stürben, als weiter »solche Ehrlosigkeit und Schande« zu erleiden. Diese unerwarteten Formulierungen tauchen in den Protesten häufiger auf, so als wollten die Bürger und Bauern ihrer Argumentation die Würde der ritterlichen Ehrbegriffe geben. Die Armen hatten nicht weniger als die Großen das Bedürfnis, sich in ihrem Handeln als edel zu empfinden.
    Der Herzog von Anjou versprach in glatten und beschwichtigenden Worten des Mitleids mit den Armen, dem König am nächsten Tag die Aufhebung der Steuern vorzuschlagen. Dem Chronisten von St. Denis zufolge hörten die Männer des Volkes in der Nacht den gefährlichen Ratgebern zu, die zu Ungehorsam gegen
den Adel und die Kirche aufriefen. Sie glaubten, so der Chronist, »daß die Regierung besser von ihnen selbst geleitet werden sollte als von ihren natürlichen Herren«. Ob dieses revolutionäre Empfinden nun tatsächlich in den Köpfen der Menschen herumspukte oder ob es nur der Furcht des Chronisten entsprang – auf jeden Fall lag der Aufstand in der Luft.
    Als die erschrockene Regierung die Aufhebung der Steuern am nächsten Tag bekräftigte, war dies eine Erleichterung, die zu schnell kam. In einer wilden Aufwallung des Triumphes und aufgestauter Aggression warf sich das Volk auf die Juden, den Teil der Gesellschaft, an dem es seine Wut ungestraft auslassen konnte. Während einige aus der Menge sich daranmachten, die Steuerregister zu verbrennen, tobte der Hauptteil mit Schreien vom »Noël! Noël!« (die sich auf den Geburtstag Christi bezogen) durch das jüdische Viertel. Sie brachen die Haustüren auf, plünderten und warfen alle Juden, die sie ergreifen konnten, in den Fluß. Jüdische Kinder wurden mit Gewalt getauft. Den meisten Juden gelang es, in das Châtelet zu entfliehen, aber zehn Leichen, darunter die eines Rabbis, wurden nach dem Aufruhr gefunden. Das Pogrom sprang auf andere Städte wie Chartres und Senlis über. Als Symptom einer verstörten Gesellschaft setzten sich die Verfolgungen sporadisch das nächste Jahrzehnt hindurch fort, bis die Krone sich 1394 gezwungen sah, wieder einmal ein Dekret zur Vertreibung der Juden zu erlassen.
    Im Augenblick aber erzwang der Geldmangel der Krone Maßnahmen zum Schutz der Juden. Hugues Aubriot, der Vorsteher von Paris, wurde beauftragt, die Juden unter königlichen Schutz zu stellen. Aubriot, ein streitbarer Mann, sandte Herolde aus, die die Rückgabe aller gestohlenen Güter befahlen. »Nur sehr wenige gehorchten dem Erlaß.«
    Durch ein Edikt vom 16. November hob die Regierung wie versprochen offiziell »von nun an und für immer alle Steuern, Zehnten und gabelles auf, durch die Unsere Untertanen so verletzt und bedrückt waren; Wir verzichten auf alle Subventionen und Hilfen, die für die besagten Kriege seit Unserem Vorgänger, König Philipp, bis heute erhoben worden sind«. Dieser Akt fiskalischen Selbstmords spiegelte eher momentane Panik als ernsthafte Absicht wider.
Mit Ausnahme Karls V. herrschten fast alle Souveräne des 14.

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