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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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der Ostküste die Steuerzahlung; der Widerstand breitete sich schnell aus und führte zuerst in Kent, der benachbarten Grafschaft südlich der Themse, zu Gewalttätigkeiten. Bauern verbanden sich mit Veteranen der französischen Kriege, bewaffneten sich mit rostigen Schwertern, Sensen, Äxten und alten Langbogen. Sie erstürmten eine Burg, in der ein entlaufener Bauer gefangengehalten wurde. Der Haufe wählte einen gewissen Wat Tyler, einen zungenfertigen Demagogen und Kriegsveteranen, zu seinem Anführer und besetzte Canterbury. Der Bürgermeister wurde gezwungen, »König Richard und dem Unterhaus« die Treue zu schwören, und der Ideologe der Bewegung, John Ball, wurde aus dem Gefängnis des Erzbischofs befreit. Er war ein wandernder Priester, Gelehrter und Fanatiker, der seit zwanzig Jahren durch das Land gezogen und oft von den Behörden eingekerkert worden war, weil er gegen Kirche und Staat gepredigt und eine radikale Lehre der Gleichheit verbreitet hatte.
    Obwohl die Kopfsteuer der zündende Funke gewesen war, führte die tiefe allgemeine Unzufriedenheit mit der leibeigenschaftsähnlichen Lage der Bauern und dem Mangel an zivilen und politischen Rechten zu dem Aufstand. Die Bauern durften vor Gericht nicht gegen ihren Grundherrn auftreten, sie hatten keine Vertreter im Parlament, sie waren zu einer Knechtschaft gezwungen, die sie nur durch Gewalt brechen konnten. Das war das eigentliche Ziel der Erhebung und des Marsches auf die Hauptstadt, der von Canterbury ausging.
    Als die Bauern von Kent auf London zuströmten – sie schafften die siebzig Meilen in zwei Tagen –, marschierten die Rebellen aus Essex nach Süden, um sich mit ihnen zu vereinigen. Abteien und Klöster, die auf dem Wege lagen, wurden zum besonderen Ziel ihrer Feindseligkeit, denn sie waren die hartnäckigsten Verfechter der Knechtschaft. In den Städten versorgten die Handwerker und kleinen Händler, die das Ressentiment der Kleinen gegen die Großen teilten, die Bauern mit Lebensmitteln und Waffen. Als die Nachricht der Erhebung andere Grafschaften erreichte, griffen Aufstände und Unruhen um sich.
    »Die verrückte Menge« öffnete auf ihrem Marsch von Kent und Essex nach London die Gefängnisse, plünderte die Herrenhäuser
und verbrannte die Steuerregister. Einige besonders verhaßte Grundherren und Beamte wurden erschlagen und ihre Köpfe auf Stangen mitgeführt.
    Die Sprecher der Bauern schworen, »alle Juristen und Diener des Königs, die sie finden konnten«, umzubringen. Außer dem König, von dem sie annahmen, er stünde auf ihrer Seite, war das gesamte Beamtentum der Krone ihr Feind – Sheriffs, Förster, Steuereinnehmer, Richter, Äbte, Lords, Bischöfe und Herzöge –, allen voran aber die Männer des Gesetzes, denn das Gesetz war das Gefängnis des Bauern. Nicht zufällig war der Oberste Richter von England, Sir John Cavendish, eines ihrer ersten Opfer. Jedes Haus eines Anwalts oder Richters auf ihrer Marschroute wurde zerstört.
    Wenn die Jacquerie dreiundzwanzig Jahre früher ein Ausbruch ohne Programm gewesen war, so entstand der Bauernaufstand in England aus einer sich entwickelnden Idee der Freiheit. Nur theoretisch von der Leibeigenschaft befreit, wollten die Bauern die Abschaffung der alten Bindungen, sie erstrebten das Recht, ihre Dienstleistungen in bezahlte Arbeit umwandeln zu können, und sie kämpften für die Befreiung von den Einschränkungen des Arbeiterstatuts, die darauf zielten, die Freizügigkeit der Bauern zu unterdrücken. Sie hatten die Lehren der Lollhardenpriester und die egalitären Theorien John Balls im Ohr. »Es kann nicht gutgehen in England«, lehrte er, »bis alles in gemeinsamen Besitz überführt ist; bis es keine Herren und Diener mehr gibt, bis die Herren nicht mehr Macht haben als wir auch . . . Denn stammen wir nicht alle von denselben Eltern ab, Adam und Eva?«
    Wyclifs Geist, der die umfassendste Autorität seiner Zeit herausgefordert hatte, ging um. Die entscheidende Entwicklung der letzten dreißig Jahre im Gefolge von Pest, Krieg, Unterdrückung und Unfähigkeit war das weitverbreitete Gefühl, daß das System so nicht mehr hinzunehmen war, daß der Regierung und den Gouverneuren nicht zu trauen war, daß man die Autoritäten herausfordern konnte – daß Veränderung tatsächlich möglich war. Moralische Autorität kann nie stärker sein als die Anerkennung, die ihr entgegengebracht wird. Wenn die Beamten bestechlich waren – was selbst den Armen nicht entgehen konnte –, wenn die

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