Der ferne Spiegel
all die Könige und Herren der Welt ihr Essen und Trinken und ihre Kleidung haben«. In Beantwortung der Frage, ob es erlaubt sei, »die Kaufleute, Bauern und Schafhirten« des Feindes gefangenzunehmen, sagt er nein: »Alle Arbeiter und Pflüger mit ihren Ochsen, wenn sie sich ihrer Arbeit widmen«, sowie jedes Maultier, jeder Esel und jedes Pferd vor dem Pflug sollten »aufgrund der Arbeit, die sie tun«, immun sein. Die Begründung war umfassend: Die Sicherheit des arbeitenden Menschen und seiner Tiere kommt allen zugute, denn er arbeitet für alle.
Bonet spiegelt die wachsende allgemeine Verdrossenheit über die »großen Schäden und den Streit«, den die täglichen Verstöße gegen dieses Prinzip verursachten, wider. Mönche wie er und Dichter wie Deschamps beklagten offen die Kriegführung. Nicht weil sie notwendigerweise empfindsamer als andere Menschen waren, sondern weil sie sich ausdrücken konnten und es gewohnt waren, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Ohne jede Illusion über das Rittertum schrieb Bonet, daß manche Ritter aus dem Durst
nach Ruhm, andere aus Furcht, andere aus »der Gier, Reichtümer zu gewinnen, und keinem anderen Grund« kühne Taten verrichteten. Als Der Baum der Schlachten , Karl VI. gewidmet, 1387 erschien, brauchte Bonet für seine Wahrheiten nicht zu leiden. Im Gegenteil, er wurde an den Hof geladen, und die Krone wies ihm Pension und Stellung zu. Wie das anderer Propheten war es auch sein Schicksal, geehrt – und ignoriert zu werden.
KAPITEL 20
Eine zweite normannische Eroberung
N och während sich Coucy in Avignon aufhielt, nahm der königliche Hof seine diplomatischen Talente erneut in Anspruch und betraute ihn mit der delikaten Aufgabe, Papst Klemens die geplante eheliche Verbindung des Königs von Frankreich mit einem Haus auf der anderen Seite des Schismas nahezubringen. Die ausersehene Braut war Elisabeth von Bayern – oder Isabeau, wie sie in Frankreich genannt wurde – aus dem Geschlecht der Wittelsbacher und eine Enkelin von Bernabò Visconti. Bayern war wie alle deutschen Staaten zur bitteren Enttäuschung Karls V. Urban treu geblieben. Eine deutsche Heirat war indessen wichtig, um ein Gegengewicht zu England zu schaffen, insbesondere da Richard II. Verhandlungen um eine Verehelichung mit Anna von Böhmen aufgenommen hatte, der Tochter des toten Kaisers. [Ref 316]
Bayern war der mächtigste und blühendste der deutschen Staaten und die Wittelsbacher die reichste der drei Familien – die anderen waren die Habsburger und die Luxemburger –, die zu verschiedenen Zeiten auf dem Kaiserthron saßen. Ein Bündnis mit den Wittelsbachern war so wünschenswert, daß Bernabò Visconti nicht weniger als vier seiner Kinder mit Nachkommen des bayrischen Hauses verheiratete. Taddea, die zweite in dieser Reihe, der eine Mitgift von 100 000 Golddukaten zugestanden wurde, heiratete Herzog Stephan III . von Bayern, der, obwohl er die Herrschaft mit seinen beiden Brüdern teilte, alle Eigenschaften des Autokraten bis zum Exzeß besaß. Rücksichtslos, verschwenderisch, großspurig, amourös und immer unruhig, wenn nicht gerade ein Turnier oder ein Krieg stattfand, paßte er gut zu einer Tochter aus dem Hause Visconti, und als sie nach zwölfjähriger Ehe starb, trat ihre Schwester
Maddalena wiederum mit einer Mitgift von 100 000 Dukaten an ihre Stelle. Isabeau, die aus der ersten Ehe Stephans hervorging, war 1385 eine hübsche, rundliche fünfzehnjährige deutsche Maid, der eine wilde und unheimliche Laufbahn bestimmt war.
Ihre Verheiratung mit Karl VI. wurde zum erstenmal ins Gespräch gebracht, als ihr Onkel, der Herzog Friedrich, nach Bourbourg kam, um an den Vergnügungen der französischen Ritterschaft anläßlich der Belagerung dieser Stadt teilzunehmen. Er hörte, eine Vorbedingung der Verlobung mit dem König von Frankreich sei, daß sich die zukünftige Braut einer Untersuchung durch Hofdamen zu unterziehen habe, wobei an der nackten Bewerberin festgestellt werden sollte, ob sie die zur Geburt von Kindern geeigneten Formen besaß. Als Friedrich diese Information seinem leicht erregbaren Bruder überbrachte, lehnte der empört ab. Was, wenn sie zurückgeschickt werden sollte? Herzog Stephan wischte die Heiratspläne auf der Stelle vom Tisch, aber sein Onkel, Albert von Bayern, verfolgte die Verbindung mit großer Diskretion weiter. Er verständigte sich auf der berühmten Doppelhochzeit seines Sohnes und seiner Tochter mit deren doppeltem Schwiegervater, dem Herzog von
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