Der ferne Spiegel
mit denen er seine Gelüste befriedigte, waren dem Volk der Auvergne abgepreßt – und dem Volk von Languedoc, als er dort Gouverneur war – mit den härtesten Steuern, die Frankreich in seiner Zeit kannte. Seine Besteuerung säte den Haß und das Elend, das im Aufstand von Montpellier in Gewalt umschlug – und auch zu seiner Abberufung führte. Die Bestrafung der Tuchin-Revolte, als er an der Stelle seines Bruders Anjou wieder Gouverneur war, erwies sich als seine lukrativste Gelegenheit. Statt Todesurteile über die Führer zu verhängen, verkaufte er Begnadigungen und erlegte den Gemeinden die enorme Geldbuße von 800 000 Goldfranken auf, viermal soviel, wie das ganze Languedoc für das Lösegeld des englischen Königs Johannes II. hatte zusammenbringen können. Sie sollte durch eine Steuer in der unerhörten Höhe von 24 Franken pro Haushalt aufgebracht werden. Unverändert und ungeläutert sollte Berry noch dreißig weitere Jahre damit verbringen, ungeheure Summen zu sammeln und auszugeben, bis er seine Länder ruiniert hatte und bankrott im Alter von 76 Jahren starb. [Ref 328]
Zu der Zeit, als er an der Schelde so dringend erwartet wurde, war er 46, eitel, vergnügungssüchtig, eigensinnig, mittelmäßig in Intellekt und Esprit, vor der Vulgarität bewahrt nur durch seine Liebe zur Schönheit und seine Förderung der Kunst. Vielleicht war diese lebenslange Leidenschaft für alles Schöne eine Reaktion auf seine eigenen häßlich-groben Züge, die er in perverser Weise noch betonen ließ: das stumpfnasige Gesicht erscheint auf Siegeln, Kameen, Gobelins, Altarflügeln, Glasfenstern und Stundenbüchern. Nach einem populären Reim wünschte der Herzog, sich »nur mit Stupsnasen an seinem Hof« zu umgeben.
Berry erschien an der Schelde erst am 14. Oktober. Inzwischen waren die Tage kürzer und kälter geworden, die Wasser des Kanals rauher. Mitte September hatte die transportable Stadt eine Katastrophe getroffen. Auf zweiundsiebzig Schiffe verladen, war sie auf dem Weg von Rouen an die Schelde, als der Konvoi von einem englischen Geschwader aus Calais aufgebracht und drei der französischen Schiffe – eines mit dem Meister an Bord, der die Bauarbeiten geleitet hatte – gekapert wurden. Zu groß, um nach Calais eingeschleppt zu werden, brachten die Engländer zwei der Schiffe nach London, wo zum Jubel und zum Erstaunen der Bevölkerung die Sektoren der hölzernen Stadt, die sie getragen hatten, ausgestellt wurden. Für die Franzosen war dieser Verlust ein schlechtes Omen.
Der Mönch von St. Denis, dem es niemals an Vorzeichen mangelte, berichtete überdies von Wolken von Krähen, die glühende Kohlen im Schnabel trugen und sie auf strohgedeckte Hütten fallen ließen, sowie von einem der verheerenden Unwetter, die regelmäßig in den dunklen Momenten seiner Chronik auftreten und das in diesem Fall die größten Bäume entwurzelte und eine Kirche durch Blitzschlag zerstörte. Am Tag, nachdem der Herzog von Berry schließlich eintraf, rührten die Elemente, »als wären sie erzürnt über die Vorzögerung«, das Meer auf und türmten Wellen »wie Berge«, die Schiffe zerschlugen. Dem folgten solche Regenfälle, daß es schien, als wollte Gott den Menschen eine neue Sintflut schicken. Viele Lebensmittelvorräte, die noch nicht verladen waren, verdarben.
Drei Wochen der Unentschlossenheit vergingen tatenlos. Im November legten die Kapitäne von einhundertfünfzig der Invasionsschiffe eine Liste von Gründen vor, warum die Einschiffung nun unmöglich geworden sei: »Wahrhaftig, die See ist verflucht: item, die Nächte sind zu lang; item, zu dunkel (und so weiter in einer langen Reihe von ›items‹), [Ref 329] zu kalt, zu regnerisch, zu fresques. Item, wir brauchen einen Vollmond; item, wir brauchen Wind. Item, die Küsten von England sind gefährlich, die Häfen sind gefährlich; wir haben zu viele alte Schiffe, zu viele kleine Schiffe, wir fürchten, daß die kleinen Schiffe von den großen vollgeschlagen und versenkt werden . . .« Die uneingeschränkte Negativität dieser
Liste deutet darauf hin, daß sie eine Entscheidung rechtfertigen sollte, die schon gefallen war.
Das ganze immense Unternehmen mit all seinen Investitionen in Schiffen, Waffen, Männern, Geld und Vorräten wurde abgesagt, zumindest für den Winter. Die große Armee lief auseinander, verderbliche Vorräte wurden den Flamen weit unter den Gestehungskosten verkauft, der Rest der transportablen Stadt wurde vom König dem Herzog von Burgund
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