Der ferne Spiegel
ansässige Bevölkerung immer höhere Preise verlangte. Ritter beschwerten sich darüber, daß vier Franken kaum noch kaufen konnten, was man vorher für einen haben konnte. Die Flamen waren mürrisch und streitsüchtig, »denn das gemeine Volk trug wegen der Schlacht von Roosebeke einen Groll in seinem Herzen«. Sie sagten untereinander: »Warum zum Teufel fährt der König nicht hinüber nach England? Sind wir noch nicht arm genug?«, auch wenn sie zugaben, daß »die Franzosen uns nicht ärmer machen«.
Alle Entschuldigungen für eine Verschiebung des Aufbruchs waren nun auf eine reduziert – das Warten auf den Herzog von Berry. [Ref 327] Sein Nichterscheinen war ein Anzeichen, daß die Entscheidung für die Invasion doch nicht ganz einmütig war, daß Zweifel und unterschiedliche Interessen hinter den Kulissen am Werk waren, daß eine Friedenspartei unter der Führung von Berry einer Kriegspartei gegenüberstand.
Der Herzog von Berry war von seiner Besitzgier und seinem Interesse an der Kunst zu sehr in Anspruch genommen, um sich für einen Krieg begeistern zu können. Er lebte für den Besitz, nicht für den Ruhm. Er besaß zwei Residenzen in Paris, das Hôtel de Nesle und ein anderes in der Nähe des Temple, und er baute oder kaufte im ganzen siebzehn Burgen und feste Schlösser in seinen Herzogtümern Berry und Auvergne. Sie alle füllte er mit Uhren, Münzen, Mosaiken, Intarsien, Büchern, Musikinstrumenten, Wandteppichen, Statuen, Gemälden, deren Rahmen mit Edelsteinen besetzt waren, Goldgefäßen, juwelenbesetzten Kreuzen, Reliquien und
Kuriositäten. Et besaß einen der Zähne Karls des Großen, einen Fetzen von Elias’ Mantel, Jesu Trinkgefäß beim Abendmahl, Tropfen von der Milch der Heiligen Jungfrau, genug von ihren Haaren und Zähnen, um noch welche zu verschenken, Erde von mehreren biblischen Schauplätzen, die Zähne eines Wals, die Stachel eines Stachelschweins, den Backenzahn eines Riesen und ausreichend goldverzierte Gewänder, um das ganze Kanonikat dreier Kathedralen einzukleiden, was er einmal tat. Agenten hielten ihn ständig über erwerbbare Kuriositäten auf dem laufenden, und als einer von ihnen ihm die Nachricht zukommen ließ, daß die »Knochen eines Riesen« in Lyon ausgegraben worden seien, beauftragte er ihn auf der Stelle mit dem Kauf. Er hielt sich Schwäne und Bären, die seine Wappentiere waren, eine Menagerie mit Affen und Dromedaren, und in seinen Gärten wuchsen seltene Obstbäume.
Wie die meisten reichen Herren seiner Zeit besaß er eine gute Bibliothek von Klassikern und zeitgenössischen Werken; er vergab Aufträge für Übersetzungen aus dem Lateinischen, kaufte Romane von den Buchhändlern in Paris und ließ seine Bücher kostbar binden, einige in roten Samt mit goldenen Schließen. Er beauftragte berühmte Illustratoren mit mindestens zwanzig Stundenbüchern, darunter zwei einmalige Meisterwerke, die Grandes Heures und die Très Riches Heures. Es war ihm ein großes Vergnügen, seine Lieblingsszenen aus der Literatur illustriert zu sehen, und er liebte Porträts, auch solche von ihm selbst. Er ist auf ihnen gewöhnlich in reines Himmelblau gekleidet, eine Farbe, die so teuer war, daß zwei Töpfe davon in der Inventurliste von Berrys »Schätzen« auftauchten.
Berry führte die Pedalorgel in seinen Kirchen ein und kaufte einem Kornettisten in seinen Diensten eine neue Jacke, damit dieser Karl V. ein Solo vorspielen konnte. Er ließ Gold und Perlen mahlen, um den Brei als Abführmittel einzunehmen, und in Mußestunden, vor allem, wenn er zur Ader gelassen wurde, um den Nachwirkungen seiner Völlerei abzuhelfen, würfelte er. In einem Spiel mit einem Ritter setzte er seinen Gebetskranz aus Perlen gegen vierzig Franken. Von seinen Schwänen, Bären und Wandteppichen begleitet, zog er unablässig von einem Schloß zum anderen, führte halbvollendete Kunstwerke mit sich, um sie andernorts von
anderen Künstlern vervollständigen zu lassen, nahm an Prozessionen und Wallfahrten teil, besuchte Klöster, inspizierte im Herbst die Weinernte und schickte seiner Herzogin einmal im Juni junge Erbsen, Kirschen und achtundsiebzig reife Birnen ins Haus. Er sammelte Hunde, war immer auf der Suche nach neuen, egal wie viele er schon besaß, und als er von einer seltenen Doggenart in Schottland hörte, ließ er sich von Richard II. einen Freibrief geben, damit vier Kuriere durch England nach Schottland reiten und auf dem Rückweg ein Paar der Tiere mitbringen konnten.
Die Mittel,
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