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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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vorbei an einem andern sternbedeckten künstlichen Firmament, das »Gottvater in all seiner himmlischen Majestät« zeigte. Dann kam das »Tor zum Paradies«, von dem zwei Engel herabstiegen, die eine goldene Krone in den Händen trugen und unter harmonischen Gesängen auf den Kopf der Königin setzten. Orgelspiel ertönte aus einer mit Vorhängen abgeteilten Nische von St. Jacques.
    Es war so viel Bewundernswertes zu bestaunen, daß es Abend wurde, bevor sich die Prozession über die Brücke bewegte, die den Weg zu Notre-Dame und damit zum Höhepunkt des Festes freigab. Auf einem Seil, das zwischen dem Turm von Notre-Dame und dem höchsten Haus auf der Pont St. Michel die Stadt überspannte, balancierte ein Akrobat, der in jeder Hand eine brennende Kerze hielt.

    »Singend ging er auf seinem Seil über der Straße entlang, und wer ihn sah, fragte sich, wie das wohl möglich sei«. Mit seinen brennenden Kerzen in den Händen war er in ganz Paris und auch noch zwei Meilen vor der Stadt zu sehen. Die nächtliche Rückkehr der Prozession von der Kathedrale wurde von fünfhundert Fackeln erhellt.
    Die Krönungsfeierlichkeiten waren mit Goldstoffen, Hermelin, Samt, Seide, Juwelen und prachtvollem Glanz so überhäuft gewesen, daß alle Teilnehmer tief beeindruckt sein mußten. Ein Festessen war in derselben Halle aufgetragen worden, in der Karl V. den Kaiser bewirtet hatte. Auch jenes vormals so erfolgreiche Schauspiel, das den Fall einer Burg, dieses Mal Troja, inszenierte, kam wieder zur Aufführung (was bedeutete, daß man dieselben Einrichtungen wieder benutzen konnte). An einem erhöhten Tisch saßen neben dem König und der Königin nur noch Prälaten und acht Damen, unter ihnen Madame de Coucy und die Herzogin von Bar. In der Halle herrschte eine solche Hitze, daß die Königin, die im siebten Monat schwanger war, als sie an diesen fünftägigen Feierlichkeiten teilnahm, in Ohnmacht zu fallen drohte. Madame de Coucy wurde in der Tat bewußtlos, und ein Tisch mit Damen wurde durch den Ansturm der Volksmenge überrannt. Fenster wurden aufgebrochen, um frische Luft hereinzulassen, aber die Königin und viele Damen zogen sich in ihre Gemächer zurück.
    Auch die Turnierspiele litten unter der heißen Witterung. Die Hufe der Pferde wirbelten so viel Staub auf, daß die Ritter sich beschwerten, aber trotzdem machte der Sire de Coucy wie gewöhnlich »einen brillanten Eindruck«. Der König befahl, den Staub mit zweihundert Fässern Wasser zu binden, »aber am nächsten Tag gab es wieder genug Staub und zuviel«.
    Vierzig führende Persönlichkeiten des Pariser Bürgertums beschenkten den König und die Königin mit Juwelen und goldenen Gefäßen in der Hoffnung, damit einen Steuererlaß zu bewirken. Von zwei Männern, die als alte Weise gekleidet waren, wurden die Geschenke der Bürger auf einer Bahre getragen, die mit feinem Tuch überdeckt war, so daß man das Funkeln des Goldes und der Edelsteine sehen konnte. Diese phantasievolle Präsentation beeindruckte den König aber anscheinend weit weniger, als sie es verdient
hatte, denn schon zwei Monate später, als sich der König auf einer Reise in den Süden befand, um seine neue Souveränität dem Volk nahezubringen, wurden in Paris die Steuern erhöht, um die Kosten für die Krönungsfeierlichkeiten und auch die neue Reise zu decken, die wiederum so aufwendig war, daß sie nicht zu Steuererleichterungen – wie geplant –, sondern zu Steuererhöhungen führte. In einer Währungsmanipulation, die bei der Kostendekkung helfen sollte, wurden die kleinen Silbermünzen, das Kleingeld der Pariser, aus dem Verkehr gezogen. Das bedeutete, daß die Armen zwei Wochen lang keine Lebensmittel mehr in den Markthallen kaufen konnten. Aber wer kann schon sagen, ob der Hunger und Zorn von zwei Wochen oder der wunderbare Anblick eines über der Stadt schwebenden Akrobaten und die weinspendenden Brunnen schwerer in die Waagschale fielen?

KAPITEL 22
Die Belagerung der Berberei
    I m Jahre 1390 wurde Coucy fünfzig Jahre alt. Neben dem Bruder des Königs und dessen Onkel mütterlicherseits war er nun der führende Adlige am Königshof, und die Krone stützte sich sowohl in militärischen als auch in politischen Fragen auf ihn. Er bekleidete die Ämter des Generalleutnants der Auvergne und Aquitaniens, und er war Mitglied des königlichen Rats, und die Abenteuer seines fünfzigsten Lebensjahres sollten ihn weit über diese Aufgaben hinaustragen.
    Als Karl VI. im September 1389 mit seinem

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