Der ferne Spiegel
der Macht oder des persönlichen Ehrgeizes sind – und Macht und Ehrgeiz tragen Scheuklappen. Zu keiner Zeit wäre es möglich gewesen, Klemens durch Macht oder Waffengewalt in Italien an die Macht zu bringen. Breite Unterstützung als rechtmäßiger Papst genossen Urban VI. – verrückt oder nicht – und sein Nachfolger. Die Franzosen verschlossen sich aber den Tatsachen und der Unverhältnismäßigkeit zwischen Kosten und Nutzen ihrer Politik. Sie verfolgten ihr Ziel mit einer blinden Beharrlichkeit, die an Leichtfertigkeit grenzte.
In den Beratungen mit Klemens schlugen Karl VI. und seine Berater vor, den Weg nach Rom dadurch zu öffnen, daß man Ludwig von Orléans durch die Wiederbelebung jenes wolkigen Königreiches Adria im Norden und Ludwig II. von Anjou in dem ebenfalls unerreichten Königreich von Neapel und Sizilien im Süden an die Macht brächte. Zu diesem Zweck war Ludwig II. von seiner unermüdlichen Mutter nach Avignon begleitet worden, wo er feierlich zum König von Neapel und Sizilien (einschließlich Jerusalems) gekrönt wurde. Wiederum wurde Coucy auserwählt, Eleganz und Glanz der Zeremonie dadurch zu unterstreichen, daß er den jugendlichen König zu Pferd bediente.
Diese Feiern waren kaum abgeschlossen, als die Nachricht eintraf,
daß Papst Urban der Schreckliche seit drei Wochen tot war und der Heilige Stuhl in aller Hast durch eine heimliche Wahl mit dem neapolitanischen Kardinal Pietro Tomacelli als Bonifatius IX. neu besetzt worden war. Weder Rom noch Avignon waren bereit, ihre Ansprüche zugunsten einer Verhandlungslösung zurückzustellen. Da die Chance, die durch Urbans Tod bestanden hatte, nun wieder vertan war, waren sich Klemens und die Franzosen darin einig, jetzt die Absetzung von Papst Bonifatius zu betreiben. Karl VI. versprach nach seiner Rückkehr, »nichts anderes mehr zu beachten, bis er der Kirche ihre Einheit zurückgegeben habe«.
Auf seiner Reise durch das Languedoc zog Karl VI. mit seinem Gefolge feierlich durch die Städte von Nîmes, Montpellier, Narbonne und Toulouse. Delegationen aller Verbände und Schichten hießen ihn in festlicher Kleidung willkommen, »daß es wunderbar anzusehen war«. Tische wurden auf den Straßen aufgestellt, so daß die Menschen essen und trinken konnten. Die königliche Speisekammer wurde von den Untertanen gefüllt: In einer Stadt beschenkte ihn die Bevölkerung mit einer kleinen Schafherde und zwölf fetten Ochsen. Einige Reitpferde kamen hinzu, die mit silbernen Glöckchen geschmückt waren. Inzwischen inspizierten seine Minister aber die wirtschaftliche Lage des Landes, verordneten Reformen und hoben die härtesten Steuern auf. [Ref 354]
In Toulouse trafen Gesandte aus Genua den König, um Pläne für »ein großartiges und edles Unternehmen« gegen das Berberkönigreich von Tunis zu unterbreiten. Sie wollten, daß französische Ritter einen Feldzug zur Unterdrückung der Piraten von der Berberküste anführten, die mit dem geheimen Einverständnis ihres Sultans den genuesischen Handel störten, Sizilien und andere italienische Inseln überfallen und geplündert hatten und gefangene Christen auf ihren Sklavenmärkten verkauften. Da die Franzosen seit dem Waffenstillstandsvertrag mit England sorgenfrei seien, sagten die Genueser, würden sich die französischen Ritter, »die tatenlos herumsaßen, freuen, mit ihnen in den Krieg zu ziehen«. Ziel des Feldzugs sollte Mahdia sein, der wichtigste Stützpunkt der Piraten und der beste Hafen an der tunesischen Küste. Wenn dieser starke Stützpunkt aber erst in christlichen Händen sei, erklärten
die Botschafter König Karl VI., wäre die Macht der Berberkönige gebrochen, und sie könnten entweder bekehrt oder vernichtet werden. Genua erklärte sich bereit, die nötigen Flottenverbände bereitzustellen sowie Verpflegung, Bogenschützen und Fußsoldaten, wenn Frankreich seinen Schwertarm – nur Ritter und Knappen, keine Diener – unter der Führung eines Fürsten aus der königlichen Familie entsenden würde.
Da es gegen Ungläubige ging, wurde der Vorschlag in die Aura des Kreuzzugs gekleidet und mit allen Mitteln der Schmeichelei vorgetragen. Aufgrund seiner historischen Großtaten gegen die Ungläubigen sei der Name Frankreichs bis nach Indien gefürchtet, sagten die Botschafter, und das allein genügte, um Türken und Sarazenen (ein Begriff, der für alle Moslems verwandt wurde) zum Stehen zu bringen. Die Botschafter warnten, daß die Ungläubigen schon Afrika und Asien
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