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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Routine der Politik in jener Zeit. Ob Coucy nun Skrupel hatte, dies zu akzeptieren, oder nicht – es abzulehnen hätte ihn als offenen Gegner der Herzöge ausgewiesen. [Ref 383]
    Im Gefängnis erwarteten Rivière und Mercier täglich den Beginn der Folterung – das normale Schicksal jener, die die Macht verloren hatten. Rivière blieb stoisch, aber Mercier soll so viele Tränen vergossen haben, daß er fast das Augenlicht verlor. Jeden Tag kamen Leute zum Place de Grève, um die Fahrt der Gefangenen
zum Schafott mitzuerleben. »Umsichtig, kühl und vorsichtig« vermied aber der Herzog von Burgund die äußerste Bestrafung. Er zog es vor, sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, solange es noch die Möglichkeit gab, daß der König die Souveränität zurückgewinnen könnte. Karl VI., der sich zusehends erholte, übte Druck aus, um seine früheren Berater aus dem Gefängnis zu befreien, und die öffentliche Meinung schwenkte aus Liebe zum und Mitleid mit dem König zugunsten der Gefangenen um. Jetzt erinnerte man sich, daß Rivière »immer sanft, höflich, leutselig und geduldig mit den Armen« umgegangen war. Nach achtzehn Monaten im Gefängnis wurden beide schließlich freigelassen und vom Hofe verbannt. Ihr Besitz aber wurde ihnen zurückerstattet, vielleicht auch Coucys Truhen.
    Die Amtsenthebung Clissons sollte zum Triumph des Herzogs von Burgund werden. Um die Lage zu klären, ging Clisson zu ihm und fragte als Constable nach Maßnahmen, die er für die Regierung des Königreiches ergreifen sollte. Philipp sah ihn böse an. »Clisson, Clisson«, sagte er zwischen den Zähnen, »Ihr braucht Euch nicht damit zu beschäftigen; das Königreich wird ohne Eure Dienste regiert werden.« Dann, unfähig, den wahren Grund seines Zorns zu verbergen, fragte er, »wie zum Teufel« Clisson ein solches Vermögen habe anhäufen können, mehr als seines und das des Herzogs von Berry zusammengenommen. »Geht mir aus den Augen«, brach es aus Philipp heraus, »denn wäre es nicht gegen meine Ehre, ich würde Euch das andere Auge ausstechen.« Clisson ritt sehr nachdenklich nach Hause. In derselben Nacht verließ er im Schutze der Dunkelheit sein hôtel mit zwei Dienern durch die Hintertür und ritt zu seiner Burg Montlhéry südlich von Paris, wo er sich verteidigen konnte. [Ref 384]
    Voller Zorn über Clissons Flucht wählte der Herzog von Burgund wiederum Coucy aus, um ihn gegen seinen eigenen Waffenbruder zu senden. Zusammen mit Guy de Tremoille sollte er das Kommando über eine Truppe von dreihundert Lanzen übernehmen, die viele frühere Kampfgenossen des Constable einschloß und auf fünf verschiedenen Straßen gegen Clissons Burg vorrükken sollte. Dies scheint keiner der klugen Züge des Herzogs von Burgund gewesen zu sein, denn natürlich wurde Clisson von seinen
Freunden in der Truppe gewarnt und entkam zu seiner Festung Josselin in der Bretagne. Hier, auf eigenem Grund und Boden, war ihm schwer beizukommen. Aber seine Flucht ermöglichte es Burgund, ihn als Sündenbock hinzustellen. Er wurde in Abwesenheit von einem Gericht verurteilt, als »falscher und böser Verräter« überführt und als Constable abgesetzt. Das Bußgeld wurde auf 100 000 Franken festgesetzt. Ludwig von Orléans weigerte sich, das Gerichtsverfahren zu bestätigen, aber im Verlaufe des ganzen Umsturzes wagte er es nie, seinen Onkeln offen den Kampf anzusagen.
    Wiederum wurde Coucy das Schwert des Constable angeboten. Der Herzog von Burgund war deutlich bemüht, ihn ganz in sein Lager zu ziehen. Wenn der Posten ihm schon in den letzten Tagen Karls V. wenig verlockend erschienen war, so reizte er ihn nun noch weniger, auch wollte er nicht vom Sturz seines Freundes profitieren. Er »lehnte mit Festigkeit ab«, das Amt zu übernehmen, »auch wenn es bedeutete, daß er gezwungen sein sollte, Frankreich zu verlassen«. Das angedeutete Risiko trat nicht ein. Da Coucy nicht zu überreden war, gaben die Onkel die Position dem jungen Grafen d’Eu, angeblich, damit er reich genug werden konnte, um Berrys Tochter zu heiraten. [Ref 385]
    Unter der Pflege von Coucys Arzt schien der König gegen Ende September auch psychisch völlig wiederhergestellt zu sein. Von Coucy begleitet, unternahm er eine Dankespilgerfahrt zur Notre-Dame de Liesse, einer kleinen Kirche in der Nähe von Laon, die an das Wunder der drei Kreuzfahrer der Picardie erinnerte, die, während sie bei den Sarazenen in der Gefangenschaft lagen, die Tochter des Sultans bekehrt und ihr eine kleine

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