Der ferne Spiegel
Bonifatius IX., »die der Kraft des fleischlichen Arms gegen den Herrn vertrauen, rufen nach einem Konzil. O verdammte und verdammenswerte Unfrömmigkeit!«
Nichtsdestoweniger diskutierten Theologen beider Seiten zunehmend die Möglichkeit eines Konzils, besonders da die Hoffnung auf einen gemeinsamen Rücktritt beider Päpste schnell welkte. Wer sollte ein solches Konzil einberufen? Wie stand es um seine Legitimität, wenn es von einem weltlichen Herrscher zusammengerufen wurde? Hatte es Gewalt über die Person des Papstes? Wenn von einem der beiden Obersten Hirten einberufen, würde der andere die Entscheidungen akzeptieren? Wie würde es jemals möglich sein, beide Päpste und beide Hierarchien zum gemeinsamen Handeln zu bewegen? Am 30. Juni 1394 hörte der königliche Hof von Frankreich eine gründliche und energische Darlegung des verbotenen Themas.
Arrangiert von Philipp von Burgund, um den Vorstellungen der Universität Gehör zu verschaffen, lief die Audienz in großer Feierlichkeit ab. Der König saß auf dem Thron, neben ihm die königlichen
Herzöge, die Kirchenfürsten, Adligen und Minister. Die Argumentation zugunsten der Abdankung wurde in Form eines dreiundzwanzigseitigen Briefes an den König vom Rektor der Universität, Nicolas de Clamanges, [Ref 405] einem Freund von Gerson und d’Ailly, verlesen. Einer der Humanisten der Universität, galt er als der beste lateinische Stilist in Frankreich und als Redner, dem in seiner »ciceronischen Eloquenz« niemand gleichkam.
Die Polemik der Kleriker im Mittelalter war alles andere als kühl. In einer Tirade von Schimpfwörtern und Beleidigungen gegen beide Päpste setzte Clamanges mit Leidenschaft eine Hyperbel auf die andere, beschrieb den jammervollen Zustand der Kirche und die dringliche, unmittelbare Notwendigkeit der Kur. Wer immer von den beiden Päpsten auch die Abdankung oder das Konzil ablehnte, verkündete er, sollte als »ein verhärteter Schismatiker und damit Ketzer« behandelt werden, als ein Raubtier, nicht Hirte seiner Herde, ein »fressender Wolf«, nicht ein Beschützer, und er sollte aus dem Schoß des Christentums vertrieben werden. Wenn die Päpste in ihrem Übermut das angebotene Heilmittel noch länger verschmähten, würden sie »es zu spät bereuen, Reformen vernachlässigt zu haben . . . der Schaden wird unheilbar sein . . . Die Welt, so lang schon unglücklich, ist nun in einer gefährlichen Talfahrt zum Bösen.«
»Glaubt ihr denn«, rief er in dem ewigen Ton des Protestes, »daß die Menschen eure schlechte Regierung immerdar ertragen werden? Wer, glaubt ihr, kann unter so vielen anderen Mißbräuchen eure käuflichen Ernennungen, eure vielfachen Verkäufe von Benefizien, eure Erhöhung von Männern ohne Ehrlichkeit oder Tugend in die höchsten Stellungen noch hinnehmen?« Jeden Tag werden Prälaten ernannt, die »die Heiligkeit und Ehrlichkeit nicht kennen«. Unter der Anleitung der Päpste »ist die Priesterschaft ein Elend geworden, gezwungen, ihre Berufung durch den Verkauf von Reliquien und Kreuzen und Gefäßen und durch die Versteigerung der mystischen Riten des Sakraments zu entweihen«. Einige Kirchen halten gar keine Gottesdienste mehr ab. Wenn die Väter der frühen Kirche auf die Erde zurückkehrten, »würden sie keine Spur ihrer Frömmigkeit mehr finden, keinen Rest ihrer Gläubigkeit, keinen Schatten der Kirche, wie sie sie kannten«.
Er sprach davon, daß die Kirche zur Zielscheibe des Spottes unter den Heiden geworden war, die hoffen, daß »unsere Kirche sich, zerrissen, wie sie ist, eigenhändig zerstören wird«. Er wies auf den Anstieg des Ketzertums hin, dessen Gift »wie Fäule jeden Tag fortschreitet«. Er prophezeite, daß noch Schlimmeres zu erwarten sei, da die inneren Streitigkeiten im katholischen Glauben die Abweichungen und die Respektlosigkeit förderten. Er sprach alle Argumente gegen ein Konzil an und widerlegte dann jedes einzelne. Mit Zitaten aus dem Alten Testament, aus den Psalmen, den Propheten und dem Buch Hiob belegte er die Autorität des Konzils. »Hat es jemals, wird es jemals«, donnerte er, »eine dringendere Notwendigkeit für ein Konzil geben als in diesem Augenblick, da die ganze Kirche in ihrer Disziplin, ihrer Moral, ihren Gesetzen, ihren Institutionen, ihren Traditionen und ältesten Gebräuchen, den geistlichen wie den weltlichen, darniederliegt, als in diesem Augenblick, da sie von dem schrecklichen und unwiederherstellbaren Ruin bedroht ist?« [Ref 406]
Sich an den
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