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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Neffe Philipps VI. und der französische Kandidat für den Herzogsthron.
    Von Kind an dem Studium von Büchern ergeben, hatte sich Karl
zu einem Asketen von übertriebener Frömmigkeit entwickelt, der durch die Kasteiung des Fleisches spirituelle Reinheit zu erreichen meinte. Wie Thomas à Becket trug er ungewaschene Kleider voller Läuse, legte Kieselsteine in seine Schuhe, schlief vor dem Bett seiner Frau auf Stroh, und nach seinem Tod fand man ein grobes Hemd aus Roßhaar unter seiner Rüstung, dessen Schnüre so eng um seinen Körper gebunden waren, daß die Knoten ins Fleisch schnitten. Durch solche Praktiken drückte ein Frommer sein Streben nach Heiligkeit aus, seine Verachtung des Diesseits, Selbsterniedrigung und Demut, obwohl er sich selbst oft genug übertriebenen Stolzes über diese Exzesse schuldig fand. Karl beichtete jeden Abend, damit er nicht als Sünder zu Bett gehen mußte. Er war Vater eines Bastards, Jean de Blois, aber fleischliche Sünden mußten nicht gescheut, nur bereut werden. Er behandelte die Niedrigen mit Ehrerbietung, den Klagen der Armen antwortete er mit Gerechtigkeit und Güte, und er verzichtete auf zu schwere Besteuerung. Sein Ruf der Heiligkeit war so verbreitet, daß die Leute seinen Pfad mit Stroh und Tüchern bedeckten, als er barfuß durch den Schnee zu einem bretonischen Reliquienschrein pilgern wollte. Aber er nahm einen anderen Weg, und seine Füße bluteten so stark, daß er wochenlang nicht gehen konnte. Seine Gottergebenheit tat der grimmigen Verfolgung seiner Ziele indessen keinen Abbruch. Er bestärkte seinen Anspruch auf das Herzogtum an den Stadtmauern von Nantes, indem er seine Belagerungsmaschinen die Köpfe von dreißig gefangenen Kämpfern Montforts in die Stadt schleudern ließ. Seine erfolgreiche Belagerung von Quimper schloß er mit einem Massaker ab, dem zweitausend Einwohner aller Altersgruppen und beider Geschlechter zum Opfer fielen. Nach dem damaligen Kriegsrecht konnten die Belagerten Bedingungen stellen, wenn sie sich ergaben; wenn sie das aber nicht taten und die Belagerung bis zu ihrem bitteren Ende durchfochten, so konnten sie keine Gnade erwarten, und deshalb empfand Karl vermutlich keine Hemmungen. Als er bei dieser Belagerung vor der Flut gewarnt wurde, die seine Angriffsaufstellung bedrohte, war er nicht zu bewegen, seine Pläne zu ändern. »Hat nicht Gott die Gewalt über die Wasser?« sagte er. Als seine Männer die Stadt einnahmen, bevor die Flut sie vom Land abschneiden konnte, wurde das vom [Ref 68]
Volk als ein Wunder angesehen, das durch Karls Gebete bewirkt worden war.
    Als Karl schließlich den Grafen Montfort selbst gefangennahm und ihn als Gefangenen Philipps VI. nach Paris schickte, wurde Montforts Sache von dessen bemerkenswerter Frau »mit dem Mut eines Mannes und dem Herz eines Löwen« weiterverfochten. Sie ritt von Stadt zu Stadt und sammelte die zerfallene Anhängerschaft ihres Mannes für ihren dreijährigen Sohn, angeblich mit den Worten: »Ha, Seigneurs, klagt nicht um meinen Herrn, den ihr verloren habt, er war nur ein einziger Mann.« Dazu versprach sie, ihren gesamten Reichtum an die Sache zu setzen. Sie stattete Garnisonen mit Vorräten aus und verstärkte sie, sie organisierte den Widerstand, »bezahlte großzügig und gab uneingeschränkt«, saß Ratsversammlungen vor, führte eine geschickte Diplomatie und gab ihrem Anliegen in gewandten und beredten Briefen Ausdruck. Als Karl von Blois Hennebont belagerte, führte sie selbst in voller Rüstung auf einem Schlachtroß den Verteidigungskampf in den Straßen an. Inmitten des feindlichen Pfeilhagels trieb sie ihre Männer an und befahl den Frauen, ihre Röcke abzuschneiden, damit sie besser Steine und Pechtöpfe tragen könnten, um sie über die Stadtmauern auf die Köpfe der Feinde zu schleudern. Während einer Kampfpause wagte sie mit einer Gruppe ihrer Ritter einen Ausfall durch ein geheimes Tor, umging das feindliche Lager und fiel ihm in den Rücken; sie vernichtete die Hälfte der feindlichen Kräfte und schlug so die Belagerung ab. Sie entwarf Finten und Kriegslisten, ließ den Feind ihr Schwert sogar in Seeschlachten fühlen. Auch als ihr Mann verkleidet aus dem Louvre entfliehen konnte, nur um bei seiner Ankunft in der Bretagne zu sterben, setzte sie den Kampf – nun für ihren Sohn – unbeirrt fort.
    Nachdem Karl von Blois 1346 von englischen Truppen gefangengenommen worden war und in einem englischen Kerker verschwand, wurde auch seine Sache von seiner nicht

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