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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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brach sie 1349 erneut aus, verbreitete sich in der Picardie, in Flandern und in den Niederlanden, von England nach Schottland und Irland genauso wie nach Norwegen. Von dort war die Geschichte von einem Schiff bekanntgeworden, das mit einer Ladung Wolle und einer toten Mannschaft an Bord vor der Küste umhergetrieben war, bis es nahe Bergen schließlich auf Grund lief. Von dort aus eroberte die Seuche Schweden, Dänemark, Preußen, Island und sogar Grönland. Nur ein kleiner Landstreifen in Böhmen blieb seltsamerweise ebenso verschont wie Rußland bis 1351. Obwohl die Sterblichkeitsrate in den einzelnen Gebieten unterschiedlich hoch war – in manchen Gegenden starben ein Fünftel, in anderen neun Zehntel der Bevölkerung –, haben sich die modernsten demographischen Schätzwerte um dieselbe Zahl eingependelt, die von Froissart mit den beiläufigen Worten »Ein Drittel der Welt starb« bezeichnet wurde. Seine Angabe war weniger eine geniale Schätzung als eine Übernahme aus der Offenbarung des heiligen Johannes, der von einer ähnlichen Katastrophe gesprochen hatte. Die Offenbarung des Johannes war in der mittelalterlichen Welt der beliebteste Führer durch die wirren Geschicke der Menschheit.
    Ein Drittel Europas hätte 20 Millionen Tote bedeutet. Niemand weiß bis heute, wie viele wirklich gestorben sind. Zeitgenössische Schätzungen können nur als Ausdruck des Schreckens gewertet werden, nicht als exakte Zählung. Im übervölkerten Avignon sollen täglich 400 gestorben sein; 7000 Häuser, die der Tod geleert hatte, wurden geschlossen. Auf einem einzigen Friedhof sollen in sechs Wochen 11000 Leichen bestattet worden sein; es wird überliefert,
daß die Hälfte der Stadtbewohner starb. Unter ihnen befanden sich neun Kardinäle und 70 geringere kirchliche Würdenträger. Die ununterbrochen vorbeiziehenden Leichenwagen beflügelten die Phantasie der Chronisten, die die Gesamtzahl der Toten in Avignon auf 62 000 und sogar auf 120000 veranschlagten, obwohl die Bevölkerung die Grenze von 50000 nie überschritten hatte.
    Als die Friedhöfe überfüllt waren, begann man in Avignon, die Leichen in die Rhone zu werfen, bis man schließlich zu Massenbestattungen in großen Gruben überging. Überall starben die Kranken schneller, als die Gesunden sie begraben konnten. Die Leichname wurden vor die Häuser geworfen, und das erste Licht des Morgens enthüllte neue Leichenberge in den Straßen. In Florenz sammelte die Compagnia della Misericordia die Toten ein. Die Mitglieder dieser 1244 gegründeten Vereinigung waren in rote Gewänder gekleidet, sie trugen rote Hüte und eine rote Gesichtsmaske, die nur die Augen frei ließ. Konnten auch sie die Zahl der Todesopfer nicht mehr bewältigen, so lagen die Leichen tagelang stinkend in den Straßen. Bald waren auch keine Särge mehr zu bekommen, und die sterblichen Überreste der Menschen wurden nur noch in Massengräber geschleift, in denen sie zum Teil von den Familienmitgliedern selbst so notdürftig verscharrt wurden, »daß Hunde die Leichen hervorzogen und auffraßen«. [Ref 84]
    Unter dem Eindruck der sich häufenden Todesfälle und der Furcht vor Ansteckung starben die Menschen ohne Letzte Ölung und wurden ohne Gebet begraben, eine Aussicht, die die letzten Stunden der Kranken verdüsterte. In England erlaubte ein Bischof auch Laien, die Beichte zu hören, und wenn »kein Mann zugegen war, dann eben eine Frau«, und wenn kein Priester erreichbar war, dann »mußte die Kraft des Glaubens helfen«. Papst Klemens VI. sah sich gezwungen, für alle Seuchenopfer eine Generalabsolution zu erteilen, weil die meisten ohne kirchlichen Beistand ins Grab gesunken waren. »Und keine Totenglocke ertönte«, schrieb der Chronist von Siena, »niemand wurde beweint, weil alle den Tod erwarteten . . . Die Menschen sagten und glaubten: ›Das ist das Ende der Welt.‹«
    Das Pestjahr 1349 forderte in Paris täglich 800 Opfer, in Pisa 500 und in Wien 500 bis 600. In Paris starben 50000, die Hälfte der
Einwohnerschaft, in Florenz, geschwächt durch die Hungersnot von 1347, vier Fünftel der Bürger, in Venedig zwei Drittel, ähnlich wie in den kleineren Städten Hamburg und Bremen. Die verkehrsreichen Städte wurden schneller befallen als Dörfer, dennoch war im Falle der Infektion die Todesrate gleich hoch. Ganze Dörfer verschwanden von der Landkarte.
    In abgeschlossenen Lebensräumen wie Klöstern und Gefängnissen bedeutete der erste Seuchentote in aller Regel die Vernichtung aller,

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