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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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nicht an, bis er in Frankreich war, und schloß sich dort König Philipp an, dem er erzählte, »mit welch großer List« er der englischen Heirat entkommen war. Der König war hocherfreut und bereitete in aller Eile Ludwigs Hochzeit mit Margarete von Brabant vor, der Tochter des Herzogs von Brabant, Flandern benachbart und ein enger Verbündeter der französischen Krone. Das war eine schwere Beleidigung für das englische Königshaus und zweifellos noch schwerer für die fünfzehnjährige Braut. Ihre Enttäuschung wird auch kaum durch ein Lied besänftigt worden sein, das überall in Frankreich gesungen wurde: »J’ay failli à celui à qui je estoie donnée par amour.« (Den, dem ich durch Liebe gegeben war, hab’ ich verloren.) Viele Jahre später rächte sie sich an einem anderen Bräutigam, den sie nun ihrerseits fast vor der Kirchentüre sitzenließ. Vielleicht waren es diese gescheiterten Verlobungen, die sie Geschmack an der Unabhängigkeit finden ließen, oder sie hatte wirklich einen eigensinnigen Charakter, auf jeden Fall war Isabella von England noch unverheiratet, als sie dreizehn Jahre später Enguerrand de Coucy VII. traf.
    Die Einnahme von Calais einige Monate nach dem flämischen Hochzeitsfiasko war das einzige große Ergebnis des Feldzuges.
Philipp hatte eine Entsatzarmee aufgestellt, war aber unverrichteterdinge umgekehrt, weil es ihm nach den Verlusten von Crécy an Geld und Soldaten mangelte. Von allem Nachschub abgeschnitten, hatten die Bürger von Calais ausgehalten Sie hatten angefangen, Mäuse und Ratten, ja sogar Exkremente zu essen, während sie auf den Entsatz warteten, der niemals kam. Schließlich zwang der Hunger sie zur Übergabe. Barhäuptig ritt der verwundete Stadthauptmann Jean de Vienne durch das Stadttor auf die Engländer zu. Er hatte sein Schwert zum Zeichen seiner Unterwerfung verkehrt herum in der Hand und übergab die Schlüssel der Stadt. Hinter ihm gingen barfüßig sechs der reichsten Bürger der Stadt mit Stricken um den Hals zum Zeichen, daß die Sieger sie nach Belieben hängen könnten. In dieser dunklen Stunde wurde unter den Blicken der hohläugigen und verzweifelten Stadtbewohner eine heilige französische Sache geboren: Calais zurückzugewinnen.
    Durch die lange Belagerung erzürnt, die sich entgegen mittelalterlicher Gewohnheit durch den Winter hingezogen hatte, wollte Eduard die sechs Bürger hängen lassen, hätte nicht Königin Philippa um Gnade für sie gebeten. Der von August 1346 bis August 1347 dauernde Kampf um Calais hatte die Truppen entkräftet und die Reserven aufgezehrt. Proviant, Pferde, Waffen und Verstärkung mußten aus England geholt werden, wo die Beschlagnahmung von Getreide und Vieh wirtschaftliche Härten heraufbeschwor und die Übernahme von Handelsschiffen den Wollexport ruinierte und das Steueraufkommen senkte. Es ist geschätzt worden, daß in den Feldzug Crécy-Calais eine Gesamtzahl von sechzig- bis achtzigtausend Männern verwickelt war. Diese Anstrengungen drohten die englischen Kräfte zu überfordern, und so konnte Eduard den Sieg nicht ausnutzen. Der neue Brückenkopf in Frankreich hatte keine Folgen außer einem Waffenstillstand, der bis April 1351 hielt. [Ref 81]
    Wenn kriegführende Parteien im Laufe des Krieges zu nüchterner Analyse fähig wären, was sie meistens nicht sind, hätten den Engländern die ersten zehn Jahre des Konflikts deutlich machen müssen, wie trügerisch ihre Erfolge waren. Sie hatten eine Seeschlacht und eine Feldschlacht ruhmvoll gewonnen, hatten einen sicheren Brückenkopf an der Küste gewonnen und waren dennoch
weit davon entfernt, Frankreich oder seine Krone zu erobern. Aber der Geschmack an Kriegsbeute, Kostbarkeiten, reichlich fließenden Lösegeldern und der Ruhm von Crécy hatte die englischen Gemüter erregt. Der Glanz der englischen Triumphe wurde von Herolden öffentlich ausgerufen. Ihrerseits waren die Franzosen nicht bereit, Ruhe zu geben, bis sie das Ziel erreichten, das der französische Dichter Eustache Deschamps vierzig Jahre später zum Refrain eines Liedes machte: »Kein Frieden, bis Calais wieder unser ist.« Crécy und Calais garantierten, daß der Krieg weiterging – aber nicht sofort, denn 1347 stand Europa am Rand der tödlichsten Katastrophe der überlieferten Geschichte.

KAPITEL 5
»Das ist das Ende der Welt«: Der Schwarze Tod
    Z wei Monate nach dem Fall von Calais liefen im Oktober 1347 zwei genuesische Handelsschiffe mit toten und sterbenden Männern an den Rudern in den

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