Der ferne Spiegel
wie in den Franziskanerklöstern von Carcassonne und Marseille, wo alle Mönche starben. Von 140 Dominikanern in Montpellier überlebten nur sieben. Petrarcas Bruder Gherardo, ein Kartäusermönch, beerdigte, einen nach dem anderen, 34 seiner Klosterbrüder und auch noch den Prior. Nachdem nur noch er und sein Hund übriggeblieben waren, machte er sich auf die Suche nach einem Zufluchtsort. Angesichts täglich zunehmender Pestopfer rätselten die Überlebenden, ob Gott die Luft mit der Krankheit verseucht hatte, um die menschliche Rasse auszulöschen. Im irischen Kilkenny blieb der Bettelmönch John Clyn allein unter den toten Brüdern zurück. Er schrieb eine Chronik dessen, was geschehen war, damit »nicht wichtige Dinge mit der Zeit verschwinden und der Vorstellung unserer Nachkommen fremd bleiben«. Er glaubte, daß »die ganze Welt, so wie sie war, in der Hand des Bösen lag«. Während er selbst auf den Tod wartete, schrieb er: »Ich hinterlasse Pergament, um die Arbeit fortzusetzen, und wenn nur ein einziger Nachkomme Adams diese Pest überlebt, soll er die Arbeit weiterführen, die ich begann.« Bruder John, so notierte eine unbekannte Hand, starb an der Pest, aber er entrann dem Vergessen. [Ref 85]
Die größten Städte Europas waren Florenz und Paris. Sie hatten eine Einwohnerzahl, die wie die von Venedig und Genua 100000 überschritt. Mehr als 50000 Bürger zählten in der nächsten Gruppe Gent und Brügge in Flandern, Mailand, Bologna, Rom, Neapel, Palermo und Köln. Mit 20000 bis 50000 Bewohnern bildeten Bordeaux, Toulouse, Montpellier, Marseille und Lyon zusammen mit den spanischen Städten Barcelona, Sevilla und Toledo eine dritte Gruppe. Sie wurde durch die italienischen Städte Siena und Pisa ergänzt sowie durch die Hansestädte des Kaiserreiches. London beheimatete weniger als 5000 Einwohner und war mit York die
einzige englische Stadt, deren Bevölkerungszahl 10000 überschritt. Die Pest wütete in allen Städten und forderte ihren Tribut, der bei einem oder zwei Drittel der Bürgerschaft lag. Italien traf die Seuche wohl am schwersten. Nach den florentinischen Bankkrächen, den Fehlernten und den Arbeiteraufständen von 1346 / 1347 hatte die Erhebung unter Cola di Rienzi Rom in Anarchie gestürzt. Die Seuche war der Gipfelpunkt einer Kette von Katastrophen. Als ob die Welt sich wirklich in der Hand des Bösen befunden hätte, erschütterte ein fürchterlicher Erdstoß im Januar 1348, als die Pest auftauchte, das europäische Festland. Er hinterließ einen breiten Pfad der Vernichtung von Neapel bis Venedig. Häuser brachen in sich zusammen, Kirchtürme stürzten um, Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Ausläufer des Bebens reichten bis nach Deutschland und Griechenland. Durch die ständig neuen Schrecken wurde das menschliche Empfinden so abgestumpft, daß ein Chronist zusammenfassend schrieb: »Und die Menschen in dieser Zeit sterben ohne Trauer, und sie heiraten ohne Freude.« In Siena, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Pest zum Opfer fiel, wurden die Arbeiten an der größten Kathedrale der Welt eingestellt. Es gab keine Arbeiter mehr und keine Baumeister, »nur Melancholie und Kummer«. Der Rumpf des Querschiffs zeugt noch heute vom Schwung der Todessense. Der Chronist von Siena, Agnolo di Tura, berichtet von der Angst vor Ansteckung, die jeden anderen Instinkt lähmte. »Väter verließen ihre Kinder, Frauen ihre Männer, ein Bruder den anderen, denn die Pest schien mit Blicken und Atem übertragbar. So starben sie. Niemand war zu finden, der die Toten begrub, nicht für Geld und nicht für Freundschaft . . . Und ich, Agnolo di Tura, genannt der Fette, habe meine fünf Kinder mit meinen eigenen Händen begraben, und viele taten es mir nach.« [Ref 86]
Es gab viele Echos dieser Klage der Unmenschlichkeit, nur wenige versuchten, dem zu steuern: Diese Seuche animierte nicht zu nachbarschaftlicher Hilfe. Der häßliche Tod einigte nicht, er ließ nur eins entstehen, den Wunsch, dem Unheil zu entkommen. »Ratsherren und Anwälte widersetzten sich dem Wunsch der Sterbenden, die Testamente aufzunehmen, und – was noch schlimmer war – selbst die Priester kamen nicht, um die Beichte zu hören«, schrieb ein Franziskaner aus Piazza in Sizilien. Ein Schreiber des
Erzbischofs von Canterbury berichtete dasselbe von englischen Priestern, »die, von Todesangst getrieben, vor den ihnen Anvertrauten flohen«. In ganz Europa, von Schottland bis Rußland, kamen Geschichten von Eltern
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