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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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wieder nach England einzuschiffen und den Feldzug nach nicht mehr als zehn Tagen abzubrechen.
    König Johann stand nun vor der Notwendigkeit, sich von der Ständeversammlung eine Subvention bewilligen zu lassen, damit er seine Truppen bezahlen konnte. Für Dezember hatte der König eine Versammlung der Stände des nördlichen Frankreichs (Langue d’oïl) nach Paris einberufen. Da aufgrund der Steuerfreiheit für Adel und Kirche der dritte Stand den größten Teil der Steuern zahlte, hatte er auch die Entscheidungsgewalt über die Höhe der Abgaben. Die Bürgerlichen nutzten diesen Umstand als Hebel zur Durchsetzung von Reformen und Privilegien, was die Monarchie bei jedem dieser Hilfsersuchen in eine schwierige Lage brachte.
    Das Angebot, das die Stände 1355 machten, zeigte den Reichtum Frankreichs und die Loyalität, die immer noch unter aller Unzufriedenheit verborgen war – aber es deckte auch ein tiefes Mißtrauen gegenüber der königlichen Regierung auf. Die Stände erklärten sich bereit, 30000 Reisige ein Jahr lang bei geschätzten Kosten
von 5 Millionen Pfund zu bezahlen – die aber nur unter der Bedingung, daß der Fonds nicht vom königlichen Schatzmeister verwaltet würde, sondern von einem Komitee der Stände, das die Truppen direkt entlohnte. Das Geld sollte durch eine Besteuerung aller Stände und eine Salzsteuer aufgebracht werden, die Steuerquoten sollten im folgenden Jahr erhöht werden, wenn sie zur Eintreibung der genannten Summe nicht ausreichten. Die neuen Quoten bedeuteten eine Steuer von 4 Prozent auf das Einkommen der Reichen, 5 Prozent auf das der Mittelklasse und 10 Prozent auf die niedrigsten steuerpflichtigen Einkommen. Ein Ergebnis dieser Besteuerung war ein Aufstand der »Kleinen gegen die Großen« in der Textilindustriestadt Arras in der nördlichen Picardie. Er wurde zwar schnell niedergeworfen, aber er war ein erstes Signal kommenden Unheils.
    Unterdessen sorgte das unermüdliche Ränkespiel Karls von Navarra für neuen Zündstoff. Er versuchte, den achtzehnjährigen Thronfolger Karl gegen seinen Vater, den König, aufzuhetzen und zugleich die normannischen Landesherren zur Verweigerung ihrer Steuerzahlungen an den französischen König zu bewegen.
    Im April 1356 hatte der französische Dauphin Karl in seiner Eigenschaft als Herzog der Normandie Karl von Navarra und die führenden Adligen der Normandie nach Rouen zu einem Festmahl geladen. Plötzlich wurden während des Banketts die Türen aufgestoßen, und der König stürmte im Helm an der Spitze seines Gefolges in den Saal. Sein Marschall d’Audrehem rief mit gezogenem Schwert: »Keiner bewegt sich, oder er ist ein toter Mann!« Der König erklärte Karl von Navarra [Ref 121] für verhaftet und nannte ihn einen »Verräter«. Daraufhin zog ein Knappe Karls von Navarra, Colin Doublel, seinen Dolch und drohte in einem unerhörten Akt des Majestätsverbrechens (lèse majesté) , ihn dem König in die Brust zu stoßen. Unerschrocken befahl Johann seinen Wachen, »diesen Jungen und seinen Herrn« zu ergreifen. Er selbst packte Johann von Harcourt so hart, daß dessen Wams von der Schulter bis zum Gürtel aufriß, und klagte ihn und die anderen aus Navarras Gefolge, die Karl von Spanien ermordet hatten, des Verrats an. Entsetzt bat der Dauphin seinen Vater, ihn nicht dadurch zu entehren, daß er das Gastrecht verletzte. »Du weißt nicht, was ich weiß«,
sagte der König. Karl von Navarra flehte um Gnade, behauptete, das Opfer falscher Anschuldigungen zu sein, aber der König verhaftete ihn mit seinem Gefolge, während die restlichen Gäste flohen, »wobei sie in ihrem Schrecken über Mauern kletterten . . .«.
    Am nächsten Morgen wurden Johann von Harcourt, Colin Doublel und zwei weitere normannische Herren in zwei Karren, dem schändlichen Fahrzeug der Verurteilten, zum Galgen gebracht. In voller Rüstung, als erwartete er einen Angriff, begleitete der König den Zug. Offenbar nervös geworden, ließ er plötzlich anhalten und befahl, die Gefangenen auf der Stelle zu enthaupten. Er erlaubte auch keinen geistlichen Beistand; als Verräter mußten sie sterben, ohne gebeichtet zu haben. Ein Ersatzhenker wurde hastig herbeigeholt, der sechs Hiebe brauchte, um Harcourts Kopf vom Körper zu trennen. Danach wurden die vier Körper zum Galgenhügel transportiert, wo sie in Ketten aufgehängt wurden. Die Köpfe stellte man, auf Lanzen aufgespießt, für die nächsten zwei Jahre zur Schau. Karl von Navarra ging als Gefangener ins

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