Der Finger Gottes
ausgetragen.«
»Ich werde nichts auf den schmalen, zerbrechlichen Schulternmeines armen Nathan austragen! Aber es geht hier nicht nur um Nathan . . .« Sie blickte zur Uhr. »Herr Brackmann, ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten. Wenn es also weiter nichts gibt . . . Behandeln Sie Nathan gut. Ich werde mich bald bei Ihnen melden.« Sie war bereits auf dem Weg zur Tür, als sie stehenblieb, sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen fuhr und Brackmann ansah. »Mir ist da gerade etwas eingefallen – was spricht eigentlich dagegen, Nathan gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen?«
»Das kann nur der Staatsanwalt entscheiden. Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen.«
»Wann?«
»Nachher.«
»Und warum nicht gleich? Dr. Kerber und ich sind alte Freunde.«
»Bitte, versuchen Sie’s.«
»Dann lassen Sie es uns gleich tun. Dann bräuchten Sie Nathan vielleicht gar nicht erst mitzunehmen. Warten Sie einen Augenblick, ich hole schnell mein Telefonbuch.« Sie huschte nach draußen, holte ihr privates Telefonbuch, schlug die Seite auf, unter der die Nummer von Staatsanwalt Kerber verzeichnet war, nahm den Hörer vom Apparat und wählte die Nummer. Kerbers Frau meldete sich. Die Nachricht für Frau Phillips war unerfreulich und auf ihrem Gesicht abzulesen. Der Staatsanwalt war unterwegs und würde nicht vor morgen abend zurücksein. Und seine Frau konnte auch nicht sagen, wo er zu erreichen war. Enttäuscht legte Frau Phillips wieder auf.
»Tut mir leid, aber ich werde Nathanael nun wohl doch mitnehmen müssen. Versuchen wir’s morgen abend noch einmal.«
»Sicher, morgen abend«, sagte Frau Phillips nachdenklich. »Und passen Sie auf ihn auf.«
Frau Phillips hauchte Nathan zum Abschied einen Kuß auf die Stirn, streichelte ihm übers Gesicht, er wich ihrem Blick aus. Schweigend gingen Brackmann und Nathanael zum Streifenwagen, Phillips fluchte hinter ihnen her. Auf eine gewisse Weise tat der Junge Brackmann leid. Das Leben war ganz offensichtlich nicht sehr freundlich mit ihm umgegangen, aber das rechtfertigte noch längst kein Verbrechen. Auch wenn dieses Verbrechen ein Hilfeschrei war.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Brackmann, als er den Motor anließ und losfuhr. »Du wirst sicher schon morgen gegen Kaution freikommen. Alles Weitere wird sich dann ergeben. Aber bis dahin mußt du leider mit einer Zelle vorliebnehmen.«
Nathanael saß regungslos neben Brackmann, seine Unterlippe zuckte, er weinte stumm.
Schmidt hockte hinter dem Schreibtisch, die Beine auf der Tischplatte, sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, er schlief. Die vergangene Nacht hatte auch bei Schmidt Spuren hinterlassen. Brackmann ließ die Tür einfach ins Schloß fallen, Schmidt schoß von seinem Stuhl hoch, blickte verstört um sich.
»Tut mir leid. Aber letzte Nacht war einfach ein bißchen viel, und heute konnte ich auch nicht . . . Sie wissen ja . . .« Er hob entschuldigend die Hände.
»Hab ich vielleicht was gesagt?«
»Was ist mit dem da?« fragte Schmidt und deutete auf Nathan.
»Die Vergewaltigung.«
»Hä? Ich versteh nicht . . .« Er kratzte sich am Kopf.
»Er war’s. Jetzt kapiert?«
»Was?« stieß Schmidt hervor. »Dieser Grünschnabel soll . . .« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein, das kann ich nicht glauben.«
»Schmidt, er hat es zugegeben! Alles andere ist nicht mehrIhr Problem. Und was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, ist kein Rat, sondern eine Anweisung – Sie werden keiner Menschenseele gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen erwähnen. Sie haben nie etwas von einer Vergewaltigung gehört, und Sie kennen Nathanael Phillips nur vom Sehen. Kapiert?«
Brackmann war gereizt. Er war selten so gereizt wie gerade eben. Er hätte vor Wut das Büro zertrümmern oder sich auch mit Scherer prügeln können. Er haßte auf einmal Waldstein und alle, die etwas damit zu tun hatten, außer Angela vielleicht. Diese Stadt, die so lange in einem wohlbehüteten Dornröschenschlaf vor sich hin gedöst und dabei offenbar die ganze Zeit über unmerklich, aber stetig eine Unmenge an Dreck angesammelt hatte, diese Stadt begann von einem Tag auf den anderen ihren ganzen Unrat auszukotzen. Und eine Menge davon auf seinen Teller.
»Schnappen Sie sich jetzt den Wagen und schauen Sie, was im Ort los ist, oder machen Sie, was Sie glauben, tun zu müssen. Und vergessen Sie vorläufig alles, was mit Angela Siebeck und den Phillips’ zu tun hat.«
»Warum bloß?«
»Weil ich es sage.
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