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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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gegenüber nicht einmal verübeln.« Er lächelte auf einmal, hielt inne, stand auf, stellte sich mit dem Gesicht zur Wand, direkt unter das Kruzifix.
    »Ob Sie es glauben oder nicht, Brackmann, ich war überzeugt, meine Neigung geheimhalten zu können bis zu meinemTod. Ich habe die Sechzig überschritten, die fleischliche Lust hört allmählich auf mich zu quälen, und ich erhoffte mir inneren Frieden . . . Aber vielleicht kann man eher etwas vor Gott geheimhalten als vor den Vandenbergs. Sie wußten es schon lange. Sie wissen alles, wenn sie alles wissen wollen! Weiß der Geier, wie sie es erfahren haben und von wem! Brackmann, die Vandenbergs kennen die intimsten Details von jedem hier, davon bin ich jedenfalls seit damals überzeugt.« Er drehte sich wieder um. »Wie bei Reuter; soll ich Ihnen sagen, was mit ihm ist?« Engler hob entschuldigend beide Hände, fuhr grinsend fort: »O ja, ich weiß, erst schweige ich wie ein Grab und dann fange ich an, wie ein Waschweib zu tratschen! Was soll’s, ich sage Ihnen, was mit Reuter ist; er hat seinen Beruf mißbraucht. Es gibt einige Damen im Ort, die schwanger wurden, es aber nicht sein wollten. Reuter war die erste und auch einzige Adresse dafür, und das noch zu Zeiten, als Abtreibung unter schwere Strafe gestellt war. Selbst aus Hof, sogar von noch weiter her sind die werten Damen angereist. Mir ist sogar eine Dame der Familie Vandenberg bekannt, die zu ihm gegangen ist. Jetzt wissen Sie, worauf Reuters hervorragender Ruf begründet ist. Bestimmt nicht auf seinen außergewöhnlichen medizinischen Kenntnissen. Außerdem hat er Medikamente verschrieben, die er niemals hätte verschreiben dürfen, zumindest nicht bestimmten Personen. Kommen wir zu Obert; er ist bis zu einem gewissen Grad ein integrer Mann, zumindest was seine Familie anbetrifft. Im Beruf ist er ein anderer Mensch. Aber Rechtsanwälte bewegen sich ja immer auf dem schmalen Grat zwischen Recht und Unrecht, mit einem Bein stehen sie ständig im Gefängnis. Obert hat alles, aber auch alles notariell abgesegnet, was die Vandenbergs abgesegnet haben wollten, selbst wenn es sich dabei um höchst dubiose Geschäfte oder Verträge handelte. Und warum das alles, werden Sie fragen?Weil Obert wahrscheinlich nirgendwo anders ein Bein mehr auf den Boden bekommen würde, würde er sich denn entschließen, zu gehen. Dafür würden die Vandenbergs schon sorgen. Merkel steht in ihrer Schuld, weil er vor Jahren, als er schwer erkrankt war, nicht die Mittel besaß, die Krankenhausrechnungen zu begleichen, und die Vandenbergs ihm aus der Patsche geholfen haben. Merkel ist, als Unternehmer, privatversichert, hat aber damals wegen geschäftlicher Probleme drei Monate hintereinander seine Beiträge nicht entrichtet. Reicht Ihnen das?«
    »Charlie?«
    »Charlie ist nur ein Handlanger. Ein einfacher, aber williger Arbeiter. Sie zahlen ihm einmal im Monat eine Art Schweigegeld, von dem er recht gut leben kann. Die Vandenbergs tun aber auch das nicht nur aus Gutmütigkeit. Sie wissen, daß sie sich jederzeit an ihn wenden können. Zufrieden, Brackmann?«
    »Noch nicht ganz. Sie haben mir jetzt alles über die andern erzählt. Doch wenn Sie deren Geschichte kennen, dann wird es doch umgekehrt genauso sein. Oder?«
    Engler lächelte geheimnisvoll, setzte sich auf die Banklehne, zog einen Bleistift aus seiner Hemdtasche und drehte ihn zwischen den Fingern. »Ich bin der Pfarrer, vergessen Sie das nicht. Dreimal in der Woche steht mein Beichtstuhl zur Verfügung. Ich sehe die Büßer nicht, sie sehen mich nicht, weil diese Wand uns trennt. Sie glauben gar nicht, wie diese Anonymität die Leute zum Reden bringt. Und in einem gottesfürchtigen Kaff wie diesem kommen die Leute scharenweise, um ihre Sünden zu bekennen. Sie wissen zwar, wer auf der andern Seite sitzt, doch wenn man es ihnen nur gut genug verkauft, meinen sie, mit Gott persönlich zu sprechen. Sie beichten ihre Verfehlungen, und ich mache ihnen zur Auflage, ein paar Rosenkränze zu beten, ein paar Kerzen aufzustellen, einen sozialen Dienst zuleisten, den Klingelbeutel etwas reichlicher als gewöhnlich zu füllen. Die Leute tun das, erleichtert es doch ihr Gewissen, und dann verlassen sie die Kirche, befreit von Sünden . . . und begehen diese Sünden wieder. Und irgendwann kommen sie wieder zu mir, beichten, und alles geht von vorn los. Es ist ein ewiger Kreislauf. Die meisten Menschen hier sind wie Kinder, unbedarft und naiv. Sie zahlen, und ich erteile die Absolution.

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