Der Finger Gottes
alteingesessenen Waldsteiner beklagten sich über den Klimawandel, erzählten oft von alten Zeiten, als in den langen Winternächten noch Wölfe bis vor die Ortsgrenzen gekommen waren und heulten, daß jedem das Blut in den Adern gefror. Ob diese Geschichten stimmten, wußte Angela nicht, aber sie hielt sie immerhin für möglich. So viel hatte sich in den letzten wenigen Jahren auf der Welt verändert, warum nicht auch das?!
Aber gerade in letzter Zeit sehnte sie sich immer öfter nach Boston zurück, wohin sie zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder vor mehr als fünfundzwanzig Jahren gezogen war, als ihr Vater die Amerikavertretung eines deutschen Chemieriesen übernommen hatte. Aber Vater war schon zehn Jahre tot, ein Herzinfarkt auf einer Geschäftsreise, während er sich mit einer seiner zahllosen Geliebten amüsierte. Mutter hatte die Wahl gehabt, wieder nach Deutschland zurückzukehren oder in dem prächtigen Haus wohnen zu bleiben und das viele Geld, das ihr hinterlassen worden war, in Amerika auszugeben. Sie hatte sich für Boston entschieden.
Mit zwanzig ging Angela auf die Universität, machte ihren Abschluß in Anglistik und Germanistik, mit vierundzwanzig wollte sie die Welt erkunden; es zog sie zurück nach Deutschland, sie wollte sehen, was sie nur aus Erzählungen kannte und woran sie sich nicht mehr erinnern konnte. Und irgendwie war sie bei ihrer Rundreise in Waldstein hängengeblieben, und weiß der Geier warum, aber sie war nicht mehr fortgekommen.
Seit längerem schon spielte sie mit dem Gedanken, Waldstein den Rücken zu kehren, doch fehlte ihr bislang der Elan, diesen Entschluß auch in die Tat umzusetzen. Dabei hatte sie damals eigentlich mehr aus der Not heraus auf ihrer Reise quer durchs Land in diesem Nest Station gemacht. Sie hatte wieder einmal unter chronischer Geldnot gelitten, auch wenn es ein leichtes gewesen wäre, Mutter um Hilfe zu bitten, aber Angela war stolz, sie wollte unabhängig sein, nicht vor ihrer alkohol- und tablettensüchtigen Mutter auf den Knien um Geld betteln. Also hatte sie sich um den zeitlich begrenzten Job in der Bücherei beworben; Frau Fleischer war krank geworden, und keiner wußte, wie lange sie ausfallen und ob sie je wieder genesen würde. Bereits nach wenigen Tagen war aber der Stellvertreter des Bürgermeisters gekommen, hatte sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, vielleicht schon bald die Leitung der Bücherei zu übernehmen. Doch die Fleischer war zäher als erwartet, und allen Unkenrufen zum Trotz hatte sie sich nach einem halben Jahr wieder erholt und erfreute sich seitdem bester Gesundheit.
Zigmal hatte Angela sich vorgenommen zu verschwinden, zigmal war etwas dazwischengekommen. Anfangs hatte es ihr in Waldstein sogar gefallen, es war eben ein völlig anderes Land, ein anderes Klima, ein anderer, etwas kauziger Menschenschlag, aber in ihrem Herzen hatte sie nie wirklich vorgehabt, ihre Zelte für immer hier aufzuschlagen.
Mittlerweile zählte sie zweiunddreißig Jahre, noch immer war sie unverheiratet, bisweilen fürchtete sie sogar, eines Tages so zu enden wie die Fleischer, eigenbrötlerisch und unberechenbar, zynisch und vertrocknet. Sie wünschte sich einen Mann an ihrer Seite, jemanden, mit dem sie sprechen, lachen, weinen konnte, nur – und das wußte sie selbst – sie stellte hohe Ansprüche an ihren zukünftigen Partner, vielleicht zu hohe, und diese Ansprüche waren unmöglich in Waldstein zu befriedigen. Dabei war sie beileibe nicht häßlich, ganz im Gegenteil, sie war gebildet, konnte sogar gut kochen.
Sie war knapp einssiebzig, hatte schulterlanges, leicht gewelltes blondes Haar und einen wohlproportionierten Körper, das einzige, das sie selbst störte, war ihr Busen, der ihr etwas zu groß schien, weshalb sie nur selten enganliegende Oberteile trug. Ihre Lippen waren nicht sehr voll, doch mit Lippenstift war das zu verbessern, und wenn sie lachte, dann bildeten sich an ihren Mundwinkeln niedliche kleine Grübchen. Dem Drängen ihrer Eltern, eine Zahnspange zu tragen, war es zu verdanken, daß sie über makellose, gerade Zähne verfügte, die man allerdings selten zu sehen bekam, denn Angela Siebeck lachte nicht viel. Sie war eher introvertiert, schüchtern, wäre nie auf einen Menschen zugegangen, doch sie war nicht unfreundlich, und wer sie näher kennenlernte, fand schnell heraus, welch liebenswürdiges Wesen in Angela Siebeck verborgen war.
»Frau Siebeck!« Brackmann trat gerade aus seinem Büro, als Angela
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