Der Finger Gottes
zu weit! Ausgerechnet Maria Olsen! Wenn überhaupt jemand hier gut und –«
»Du bist eben viel zu naiv, meine Liebe«, Esther Pickard fielihr schnippisch ins Wort. »Aber wie du selbst weißt, gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir uns nichts träumen lassen. Und so mancher, der nach außen die Heiligkeit in Person scheint, erweist sich nachträglich als mieser Schurke. Ich jedenfalls kann mir bei Maria Dinge vorstellen . . . Eine Frau wie sie, die mehr als ihr halbes Leben allein verbringt! Ph, wo gibt’s denn so was?! Nun, ich will nichts gesagt haben, aber wie sagt doch unser geschätzter Herr Pfarrer so schön – jeder trägt sein kleines Geheimnis mit sich herum. Vielleicht war es bei der guten Maria ja ein großes?!«
»Tut mir leid, ich kann dir nicht folgen«, erwiderte Angela Siebeck kühl und abweisend.
»Gut, gut, ich habe nur ausgesprochen, was ich denke. Und jetzt muß ich nach Hause, Georg wird schon auf mich warten. Mach’s gut, meine Liebe. Und denk über meine Worte nach.« Sie huschte davon, den Kopf erhoben, und eilte die Straße hinunter.
Angela Siebeck sah ihr kopfschüttelnd nach, dieser merkwürdigen Person, die an nichts und niemandem ein gutes Haar ließ und offenbar in niemandem auch nur einen Funken Gutes entdeckte. Das mit Maria Olsen tat ihr aufrichtig leid, sie hatte sie gemocht. Sie war eine gute Frau gewesen. Nein, was immer Esther über sie denken mochte, es war falsch. Nicht Maria Olsen, nicht diese liebenswürdige Person.
Angela schwitzte, die Schwüle machte auch ihr zu schaffen. Die Sonne war nur mehr ein riesiger, rötlicher verschwommener Ball dicht über den Spitzen des Frankenwaldes. Sie war müde, ihre Beine schmerzten, in ihrer linken Schläfe stachen tausend Nadeln. Frau Fleischer hatte wieder einen ihrer besonders übellaunigen Tage gehabt. An solchen nicht seltenen Tagen half nur ihr aus dem Weg zu gehen, was inder kleinen Bücherei allerdings ziemlich schwierig war. Auch wenn es meist nicht einmal zwei Stunden waren, die sie während des Tages zusammen verbrachten, eine am Morgen, eine weitere am späten Nachmittag, so reichte schon diese kurze Zeit, um den ganzen Tag zu verderben. Und das Schlimme war, daß die Fleischer ihre Chefin war. Glücklicherweise gehörte es zu Angela Siebecks Aufgaben, Kranken und Alten Bücher zu bringen, manchmal auf ein Schwätzchen zu bleiben, einen Kaffee oder ein Gläschen Likör mitzutrinken, manchmal wurde sie auch gebeten, etwas vorzulesen.
Gedankenverloren, denn die Hitze erschwerte sogar das Denken, lief Angela durch das dämmrige Waldstein. Das Atmen bereitete ihr Mühe, bleierne Gewichte quetschten ihre Brust zusammen, ihre Beine fühlten sich geschwollen an, ihr Blut schien dick wie Sirup durch ihre Adern zu fließen.
Wieder einmal wünschte sie sich, zu Hause in Boston geblieben zu sein. Dort brauchte sie sich nur ins Auto zu setzen, ein paar Kilometer zu fahren, bis sie an würzigduftende Wälder gelangte, an klare Seen und saftig grüne Wiesen, übersät mit bunten Blumen, von Dezember bis März lag Schnee, und nicht selten sehnte sie sich nach dem kalten Nordwind und den langen Wintern ihrer Jugendzeit. Wie jetzt.
Sechs Jahre lebte sie nun schon hier, sechs unendlich lange, langweilige Jahre. Boston bedeutete Leben, Menschen, Geschäfte, Freiheit. Und Waldstein? Selbst die Landschaft ließ immer mehr zu wünschen übrig, entweder diese unendlich langweiligen Felder oder die Trostlosigkeit der braunen sterbenden Wälder des Fichtelgebirges oder Frankenwaldes, getötet von jahrzehntelangem saurem Regen, den stinkenden Giftwolken, die so lange Jahre von der Tschechei mit dem Ostwind rübergeweht waren und denen jetzt selbst diestärksten und widerstandsfähigsten Bäume zum Opfer fielen. Keine richtigen Wälder mehr, keine klaren Bäche, auch sie gestorben unter gewaltigen Giftlasten, die von den Textilfabriken und Färbereien in sie hineingepumpt wurden.
Den letzten richtigen Winter hatte sie vor fünf Jahren erlebt, als zwei Monate lang Schnee lag und die Temperaturen kaum einmal über Null gestiegen waren, eisiger Ostwind aus den Tiefen Rußlands wie von einer riesigen Maschine ins Land geblasen wurde und blankes Eis durch die Luft trieb. Doch seitdem, ihrem ersten Winter in Waldstein, hatte sie keinen mehr erlebt. Meist milde Luft aus dem Westen, viel Regen. Dafür waren Jahr um Jahr die Sommer heißer und länger geworden und, wie sie meinte, die Gewitter häufiger und heftiger. Selbst die
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