Der Finger Gottes
Scherer.
»Reuter! Ich werde schnell Reuter anrufen«, stieß Toni hektisch hervor. Reuter versprach, sich sofort auf den Weg zu machen. Charlie hatte sich während des kurzen Telefonats über Scherer gebeugt und ein Ohr auf seinen Brustkorb gelegt.
»Und?« fragte Toni besorgt.
»Lebt noch, das Stinktier«, meinte Charlie, es klang enttäuscht.
»Hoffentlich kommt der Doktor gleich!« meinte Toni.
»Warum?« fragte Charlie, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ich kann verdammt noch mal keinen Toten hier gebrauchen!«
»Ach so, dachte schon, du würdest dir wegen diesem Bastard Sorgen machen.«
»Scheißtag heute!« bemerkte Toni kopfschüttelnd. »Erst stirbt die gute Maria Olsen, und dann kommt auch noch dieses Arschloch daher, terrorisiert meine Gäste und kratzt mir fast ab!«
Toni zitterte etwas, also schenkte er sich einen doppelten Whisky ein. Reuter kam fünf Minuten nach dem Anruf. Er untersuchte Scherer kurz, fühlte den Puls, hob die Lider ein wenig an, leuchtete in seine Augen.
»Ihr müßt mir helfen, ihn in meinen Wagen zu schaffen. Ich muß ihn in meiner Praxis behandeln.«
»Was hat er denn?« fragte Toni.
»Kreislaufkollaps. Hat er viel getrunken? Er stinkt jedenfalls wie ’ne Schnapsbrennerei.«
»Fünf Bier und Korn. Aber das alles in nicht mal ’ner Viertelstunde.«
»Dann ist das kein Wunder«, murmelte Reuter. »Bei der Hitze heute sollte man mit Alkohol vorsichtig sein. Das kann selbst einen Elefanten wie Scherer umhauen . . . Charlie, Willy, faßt mit an. Wir packen ihn in meinen Wagen. Ihr müßt aber auch kurz mit in die Praxis kommen.«
Charlie und Willy erhoben sich wortlos von ihren Hockern – Willy schwankte etwas – und halfen, den bewußtlosen Scherer in Reuters Auto zu hieven.
Während sie das taten, kam Esther Pickard, die Frau des Schreiners, Schlossers und Leichenbestatters, eine mittelgroße, leicht füllige Person, mit zwei Tüten voll Lebensmitteln vom Supermarkt die Straße entlang. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, ein paar Haare klebten an ihrer Stirn.
»Nanu, Scherer!« rief sie erstaunt aus und zog die Augenbrauen hoch, als sie mitbekam, was sich auf der anderen Straßenseite abspielte. Sie überquerte die Straße, um das Ganze besser zu sehen. Esther Pickard gehörte zweifellos zu den neugierigsten Personen in Waldstein, die keine ihr bekannte Neuigkeit lange für sich behielt. Während sie sich mit flinken Schritten auf die andere Straßenseite begab, erblickte sie eine Bekannte.
»Hast du das gesehen, Angela?« sagte sie mit einer Stimme, die immer etwas hysterisch klang. »Scherer scheint’s erwischt zu haben. Na ja, ich sage ja immer, einen wie den trifft die Strafe noch irgendwann. Das, was er mit seiner armen Frau macht, darf einfach nicht ungesühnt bleiben!« sagte sie abfällig.
»Wenn du meinst, Esther«, erwiderte Angela zurückhaltend.
»Aber lassen wir Scherer, es gibt weiß Gott Wichtigeres.Angela, hast du schon das Allerneueste gehört? Nein, bestimmt hast du das nicht!« sagte sie und winkte ab. »Aber es wird dich glatt von den Füßen reißen, das garantiere ich dir.« Sie kam mit ihrem Gesicht ganz nahe an das von Angela Siebeck heran, ihre Augen funkelten, während sie kurz innehielt, den neugierig fragenden Blick genoß, die Lippen aufeinanderpreßte und wartete.
»Was ist denn das Allerneueste?« fragte Angela Siebeck etwas reserviert und tat, als wäre sie nur am Rande an einer Neuigkeit interessiert.
»Siehst du, ich wußte es.«
»Nun ja . . .«
»Also gut, hör zu. Du kennst doch die gute Maria Olsen?«
»Natürlich kenne ich sie! Was ist mit ihr?«
»Tjaaaaa«, fuhr Esther Pickard fort, fügte ihrer Stimme einen leicht theatralischen Unterton bei, »die Gute ist seit heute nachmittag nicht mehr.«
»Wie bitte?«
»Nun, sie ist tot, verstorben oder wie immer du möchtest.« Sie prüfte in Angelas Gesicht, ob ihre Worte auch die erwünschte Wirkung erzielt hatten.
»Das gibt es nicht! Ich habe doch noch heute morgen bei ihr eingekauft!«
Esther Pickard war mit dieser Reaktion zufrieden. »Daran kannst du sehen, wie schnell Gevatter Tod seine Sense auspackt. Ich«, und dabei beugte sie sich noch näher an Angela heran, um zu verhindern, daß irgend jemand ihre nächsten Worte mitbekam, »ich für meinen Teil würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn das nicht vielleicht sogar . . . von oben . . . ich meine, von ganz da oben . . .«
Angela Siebeck wich entrüstet einen Schritt zurück. »Esther, ich finde, das geht
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