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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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während sein Herz sich immer weiter von ihm entfernt hatte.
    Dabei hatte er gelernt, war das Knien, der damit verbundene Schmerz ein körperliches Zeugnis von Demut. Er neigte den Kopf, faltete die Hände, wollte beten, aber sein Kopf war wie ein Karussell. Er war fahrig, nervös, unfähig, eine Verbindung zu Gott aufzubauen, ihm sein Herz auszuschütten. Gott reagierte nicht, Engler hatte verlernt zu beten.
    Er schlug mit den Fäusten aus Wut und Enttäuschung auf das Bett, reckte die Arme verzweifelt in die Höhe, quetschte durch die Zähne: »Wo bist du? Gott, wo bist du?« Keine Antwort, kein Frieden.
    Er hatte es versucht. Morgen wieder. Irgendwann würde eres schaffen und Gott seinen Willen zur Buße erkennen, und allein das zählte.
Aber habe ich mir nicht schon zu oft genau dies vorgenommen? Habe ich nicht Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr meine Buße, meine Umkehrbereitschaft aufgeschoben? Ist die Geduld Gottes am Ende?
    »Nein, bitte, nur noch eine Chance, eine einzige, kleine Chance!«
    Er erhob sich, stieg in seine Pantoffeln, zog sich den Morgenmantel über, schaltete die kleine Lampe neben seinem Bett an, holte aus dem Nachtkästchen eine Schachtel Marlboro, obgleich er Pfeife vorzog, zündete sich eine Zigarette an. Er stellte sich ans Fenster, kühler Wind schlug ihm entgegen. Er rauchte langsam, blies den Qualm aus dem Fenster, doch der Wind trieb ihn gleich wieder in das Zimmer zurück. Als er zu Ende geraucht hatte, schnippte er die Kippe auf den Fußweg vor dem Haus. Gerade als er das Fenster schließen wollte, hörte er die Durchsage von Brackmann. 1.01 Uhr. Engler verharrte zwei, drei Sekunden regungslos, schloß das Fenster und zog sich ruhig an. Er stieg die Stufen hinauf zu Mathildes Zimmer, klopfte gegen ihre Tür. Wartete, klopfte ein weiteresmal, diesmal heftiger. Ihre Tür war abgeschlossen, wie immer. Sollte nichts anderes helfen, würde er die Tür eintreten. Er trommelte mit beiden Fäusten gegen das Holz, bis seine Hände schmerzten. Schließlich vernahm er das müde Schlurfen von Mathildes alten Füßen, das Umdrehen des Schlüssels. Sie öffnete die Tür einen Spalt, steckte ihr verschlafenes Gesicht hindurch. In einer Hand hielt sie die Ohrstöpsel.
    »Herr Pfarrer«, sie gähnte laut und herzhaft, »was ist los?«
    »Bis jetzt noch nichts. Aber möglicherweise gleich. Ziehen Sie sich schnell an und kommen Sie in den Keller. Es könnte sein, daß wir im wahrsten Sinn des Wortes eine stürmische Nacht bekommen.«
    »Was?«
    »Mathilde, stellen Sie keine Fragen, sondern beeilen Sie sich.«
    Um 1.08 Uhr begaben sie sich in den Kellerraum der Kirche. Sie setzten sich jeder auf einen Stuhl, wortlos und gefaßt. Engler hatte das Gefühl, als begänne der Weltuntergang ausgerechnet in Waldstein. Kaum hatten sie Platz genommen, als sie ein unheimliches Zischen und Krachen hörten, und dann verlöschte das Licht. Hölle, Apokalypse, Endzeit.
     
    Brackmann kannte Tornados nur vom Hörensagen. Im Augenblick war ihm nichts wichtiger, als so schnell wie möglich einen sicheren Platz zu finden. Und Angela Siebeck war ihm wichtig. Sie tat ihm leid, er war voll unbändiger Wut auf das Dreckstück, das sich an ihr vergangen hatte. Er schwor sich, keine Gnade walten zu lassen, sollte er diesen Kerl je zwischen die Finger bekommen.
    Er lenkte den Wagen durch die windigen, sturmgebeutelten Straßen auf das Haus zu, in dem sie wohnte. Er wollte einen letzten Versuch unternehmen, sie zum Aufsuchen eines einigermaßen sicheren Ortes zu bewegen. Er drückte den Klingelknopf einmal, zweimal, ließ dann einfach den Zeigefinger auf der Klingel. 1.06 Uhr. Eine Ewigkeit verging.
    »Ja?«
    »Hier noch mal Brackmann. Bitte, Frau Siebeck, verlassen Sie Ihre Wohnung. Es kann sein, daß hier schon in wenigen Minuten kein Stein mehr auf dem andern steht. Bitte seien Sie vernünftig!«
    »Warum lassen Sie mich nicht endlich zufrieden?! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht will!«
    »So hören Sie doch, Frau Siebeck! Auch wenn es Ihnen egal ist«, er machte eine kurze Pause, holte tief Luft, nahm all seinen Mut zusammen, »so ist es mir noch längst nicht egal. Bitte, ich möchte nicht, daß Ihnen etwas geschieht.«
    Wieder verstrichen wertvolle Sekunden, bevor sie antwortete: »Warten Sie.«
    Sie kam die Treppe herunter. Über ihr Kleid hatte sie einen leichten Mantel gezogen. Sie war blaß, die Augen eingefallen, die Wangenknochen standen leicht hervor, ihr Haar war ungekämmt, die Bewegungen

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