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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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geschrieben, hätte sie doch alles, was sie wußte, für sich behalten und mit ins Grab genommen!
Wie oft hatte er in den letzten drei Jahrzehnten den Bürgern dieser Stadt die Beichte abgenommen, ihnen die Absolution erteilt. Bete zehn Rosenkränze, spende zwanzig Kerzen für den Altar, entschuldige dich bei deinem Nachbarn, tu dies, tu jenes, und der Herr wird dir gnädig vergeben! Aber mehr als irgend jemand sonst hätte er jetzt einen Menschen gebraucht, dem er sich anvertrauen konnte! Sein Bischof saß in Nürnberg, er wäre die angemessene Ansprechperson gewesen, doch er war ein alter, verknöcherter, rechthaberischer, humorloser, nur auf das geschriebene Wort Gottes pochender Mann, der nie den Menschen, sondern immer nur die Sünde sah. Er war der letzte, mit dem Engler reden würde, dem er seine Seele öffnen, von dem er Absolution erwarten würde. Er hatte niemanden, der ihm in diesem Kampf zur Seite stand.
    Die Ereignisse dieses Tages hatten die Ruhe und den, wie er jetzt ernüchtert feststellen mußte, so oberflächlichen, fragilen Frieden seines Lebens erheblich erschüttert. Er war aufgewühlt, zu keinem klaren Gedanken fähig, und je länger er grübelte, desto stärker wurde das Gefühl der Unsicherheit und Furcht. Er setzte sich auf, lehnte sich gegen die Wand, sein Herz schien seinen Brustkorb sprengen zu wollen, sein Rücken schmerzte, über seinen Nacken wurden spitze Stacheln in seinen Kopf gestoßen.
    Der Ventilator surrte leise, ihn störte jetzt selbst diesesGeräusch, doch ohne ihn hätte er es in dem Dachzimmer bei dieser Hitze nicht ausgehalten. Er faltete die riesigen fleischigen Hände, betrachtete für einen Moment ihre Schattenumrisse.
    Irgendwann vor Urzeiten hatte er den brennenden Wunsch verspürt, sein Leben Gott zu weihen, vielleicht in der irrigen Annahme, allein durch diese Entscheidung eine Art Freifahrtschein ins Paradies erkaufen zu können. Natürlich hatte er stets an Gott geglaubt, kein Mensch war so töricht, ein Leben für etwas zu opfern, an das man nicht bedingungslos glaubte. Lange Zeit war er überzeugt, diesen Freifahrtschein auch fest in Händen zu halten, inzwischen jedoch wußte er, daß er ihn verloren oder wahrscheinlich niemals besessen hatte; er schalt sich einen Narren, je so blauäugig gewesen zu sein und zu glauben, Gott ließe sich kaufen oder übertölpeln.
    Englers Haare waren längst spärlich und grau geworden, sein Körper hatte den jugendlichen Elan verloren. Was blieb ihm noch, wann war seine Zeit gekommen? Vielleicht ging es ihm schon bald wie Maria Olsen, die der Schlag wie aus heiterem Himmel getroffen hatte. Der Blick auf die dahinschwindende Zeit, die Angst vor dem Tod, vor dem Moment, an dem er dem Schöpfer gegenübertrat. Er schüttelte den Kopf. Er hatte viele Fehler begangen in seinem Leben. Zu viele. Er wußte, sein Leben war dem eines Priesters unwürdig.
    Fleischliche Gelüste, die ihn früher bedrängt und denen er so oft nachgegeben hatte, waren nicht mehr so häufig. Mit über Sechzig war der Trieb nicht mehr so ausgeprägt, waren es andere Verfehlungen, derer er sich schämte. Er hatte oftmals still für sich Buße getan, für die kleinen Dinge, wie er sie nannte. Aber er wußte nicht, wie er das Große bereuen sollte, ob es überhaupt einen Weg gab, es zu bereuen. Gott wußte alles aus seinem Leben. Und wenn ersich in den finstersten Raum einschließen würde, Gott würde ihn sehen, seine Gedanken lesen. Gott konnte nichts verheimlicht werden, Gott ließ sich nicht spotten.
    In dieser Nacht, während der Sturm vor seinem Fenster tobte, beschloß Engler, sein Leben zu ändern, das begangene Unrecht wiedergutzumachen, soweit dies überhaupt noch möglich war.
    Er drehte den Kopf zum Fenster, wo der Wind die Vorhänge aufblähte, sie zuckend zurückfielen, bis ein erneuter Windstoß sie wie volle Segel spannte, sie bis fast an die Decke trieb und sich das Ganze von vorn wiederholte. Er wünschte sich jetzt, weinen zu können, er konnte es nicht. Er flehte nur leise: »Vergib mir, o mein Gott, bitte vergib mir!«
    Etwas drängte ihn, aufzustehen, sich vor das Bett zu knien. Eine Ewigkeit war vergangen, seit er das letzte Mal vor Gott gekniet hatte, meist leierte er seine Gebete auf einer der Kirchenbänke herunter oder im Beichtstuhl oder während er bequem in seinem Sessel saß oder bereits im Bett lag. Er drosch die immer gleichen Phrasen, benutzte die immer gleichen Worte, näherte sich Gott seit Jahren nur noch mit den Lippen,

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