Der Finger Gottes
stellen wollte, ließ aber plötzlich den Vorsatz fallen, sie aufzusuchen. Er hatte erstens nicht genügend Material, und seine unergründlichen Ängste begannen sich zu melden. Er kannte die Vandenbergs nur von Erzählungen, und die waren wenig ermutigend. Er schalt sich einen Narren, hierhergekommen zu sein, er mußte erst hieb- und stichfeste Beweise in Händen halten. Er wußte, daß es nur die Müdigkeit war, die ihn nicht klar denken ließ.
Frustriert startete er den Motor wieder, fuhr an den Feldern und der Spinnerei vorbei zum Steinbruch. Er parkte den Wagen an derselben Stelle wie am Vortag. Vorsichtig ging er den vom Regen morastigen Weg hinunter, dessen tiefe, jahrealte Spuren von grobprofiligen Lastwagenreifen selbst diese Wolkenbrüche nicht wegzuwischen vermocht hatten. Mit den Augen suchte er den Steinbruch ab. Sinnlos, in diesem riesigen Areal eine sechs Jahre alte Leiche suchenund finden zu wollen. Er brauchte dringend Hilfe. Aber wem konnte er vertrauen, wer außer Maria Olsen, Engler, (auch wenn dieser es leugnete, er wußte, er mußte einfach wissen, was vor sechs Jahren mit Alexander Höllerich geschehen war, und sei es nur aus den Berichten von Maria Olsen) und vielleicht sogar Reuter (dem Brackmann inzwischen alles zutraute) konnte mit dem Namen Höllerich etwas anfangen?
An seinen Schuhen klebte Lehm, der sich kaum abstreifen ließ. Er stieg wieder in den Wagen, drehte den Knopf des Radios. Sie meldeten zum hundertsten- oder tausendstenmal den Tornado der zurückliegenden Nacht, brachten Vorortberichte, sprachen von einem der verheerendsten und opferreichsten Tornados seit Beginn der offiziellen Wetteraufzeichnungen. Der Ministerpräsident von Bayern sowie der Bundeskanzler hatten umfangreiche und unbürokratische Hilfe zugesichert.
Hoffentlich haltet ihr eure Versprechen auch, dachte er, während er zurückfuhr und ihm Lastwagen nach Lastwagen, beladen mit Schutt und Müll, entgegenkam. Hoffentlich haltet ihr euch an eure Versprechen!
Georg Pickard hatte nicht geschlafen. Er hatte zum Ende der Nacht hin versucht einzuschlafen, aber er hatte nur wachgelegen. Die meisten Räume des Hauses standen unter Wasser, ein Großteil der Möbel, die Teppichböden, selbst der echte Perserteppich hatten nur noch Schrottwert, genau wie der Kühlschrank, die Kühltruhe und einige andere Elektrogeräte. Er wußte noch nicht, ob die Versicherung für den Schaden aufkommen würde, er machte sich im Moment auch keine Gedanken darüber. Sein Gesicht war eingefallen, seine Gedanken bei Esther im Krankenhaus, während er mit Bernd und Dieter das Haus aufräumte.
»Du solltest etwas essen«, sagte Dieter am Morgen. »Wenndu schon nicht schläfst, dann mußt du wenigstens was in den Magen bekommen. Sonst können wir dich bald zu Mutter ins Krankenhaus legen.«
»Ach was! Denkt lieber an eure Mutter! Betet für sie ein paar Rosenkränze oder . . . Ach, ich weiß auch nicht, es ist einfach zuviel auf einmal! Ich glaube, ich sollte jetzt mal im Krankenhaus anrufen, vielleicht gibt es ja Neuigkeiten.«
Esther, sie würde nie mehr dieselbe sein wie früher. Ein Krüppel, bewegungsunfähig ans Bett oder den Rollstuhl gefesselt. Er spürte es einfach. Er schlurfte zum Telefon, wählte das Krankenhaus an. Er hatte sich vorgenommen, seine Stimme so fest und beherrscht wie möglich klingen zu lassen, doch sie gehorchte ihm nicht. Er wurde dreimal weiterverbunden, bis er den zuständigen Arzt in der Leitung hatte. Esther war, schon kurz nachdem er gegangen war, aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht. Angeblich ging es ihr den Umständen entsprechend gut, aber man hätte noch keine Zeit für eine genauere Untersuchung gefunden. Im Laufe des Vormittags würde das jedoch noch geschehen. Und dann war das Gespräch auch schon vorbei.
»Was ist mit Mutter?« fragte Bernd.
»Sie ist aufgewacht, mehr konnte der Arzt nicht sagen. Kommt, laßt uns wieder an die Arbeit gehen.«
»Aber erst ißt du was, und dann legst du dich hin. Wir übernehmen deine Arbeit so lange mit. Klar?!«
»Unsinn, mir geht’s prima!«
»Ach ja? Dann schau doch mal in den Spiegel und betrachte ein Gespenst! Wir kommen auch mal ein paar Stunden ohne dich zurecht.«
Pickard stand sekundenlang unschlüssig da. »Gut, wenn ihr meint. Aber nicht länger als drei oder vier Stunden.«
Er aß eine Scheibe Brot mit Honig, bevor er sich im Wohnzimmer, dem einzigen einigermaßen bewohnbaren Raum im Haus, schlafen legte. Er schlief ein, nachdem er einschweres
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