Der fliegende Brasilianer - Roman
entsetzlich, der Wind riss mich mit, ich konnte nicht tiefer gehen … Es wurde dunkel … Das war es nicht, was ich dir erzählt habe? Ach, ja, dann weiß ich schon! Es war der Flug, bei dem ich mit der Nr. 5 auf dem Hotel Trocadero hängen geblieben bin. Ein Ende des Ballons war schlaff geworden, und der Propeller, der sich noch langsam drehte, geriet in die Klaviersaiten, die ich als Aufhängung benutzte, und dann war’s passiert. Ich hörte, dass irgendetwas zerriss und dann das Zischen von entweichendem Gas. Der Ballon verlor schnell an Höhe. Ich drehte mich um und sah den Eiffelturm wie ein Schwert auf mich warten, falls ich versuchen sollte, nur durch Ablassen von Ballast und ansonsten dem Wind ausgeliefert herunterzukommen. Ich entschied, das Beste wäre, in den Fluss zu fallen, und ließ die Nr. 5 mit schlaff nach unten baumelnder Spitze und dem Heck in der Luft sinken. Ich befand mich ungefähr einen Kilometer von der Seine, also nicht sehr weit. So flog ich etwa 300 Meter, bis mein Kiel das Hoteldach streifte und die herunterhängende Seide sich am Schornstein verfing. Es gab einen fürchterlichen Ruck, und ich blieb, in die Reste des Ballons eingewickelt, zwölf Meter über der Erde hängen. Das war das Schlimmste, kopfüber zu hängen, auf Hilfe zu warten und zu hören, wie die Leinen nachgaben …
An den Unfall kann ich mich erinnern, ich glaube, ich habe irgendwo darüber gelesen.
Das Merkwürdigste war, dass ich überhaupt keine Angst hatte. Ich hing mit dem Kopf nach unten und war fest davon überzeugt, dass ich mit dem Leben davonkommen würde. Meistens bekomme ich erst Angst, nachdem die Gefahr vorbei ist. War es dieser Unfall, von dem ich dir erzählt hatte?
Nein, eigentlich wollte ich nicht, dass du mir von Unfällen erzählst.
Nein? Aber Unfälle passieren nun mal …
Alberto packt die merkwürdigen Pfeile in einem Kasten zusammen. Neben ihm wartet das junge Mädchen, ihre braunen Augen glänzen vor Erregung. Diese jugendliche Vitalität weckt in ihm widersprüchliche Gefühle. Ihre große Neugier irritiert ihn manchmal, aber das Impulsive, Enthusiastische daran bewirkt in ihm ein angenehm anregendes, warmes Gefühl.
Der Tag, an dem der Eiffelturm klein wurde Die Nr. 6 ist eine undeutliche, graue Form, die über das Blassblau des Herbsthimmels schwebt. Diesen Tag wird Alberto sein Leben lang nicht vergessen: Es ist der 19. Oktober 1901. Der Winter naht, und die klimatischen Verhältnisse sind erbärmlich, aber an diesem Nachmittag hat das Wetter sich ausnahmsweise gehalten, die Nr. 6 befindet sich in bestem Navigationszustand und er in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Die Nr. 6 ist ein längliches Luftschiff, wesentlich größer und primitiver als die elegante Nr. 9. Im Grunde ist es ein ungeschlachter, unförmiger Ballon. Um Überraschungen zu vermeiden, hat Alberto sich vorsichtshalber telefonisch beim Wetterdienst erkundigt. Man hat ihm gesagt, dass in der Höhe, die er anpeilt, der Wind aus Südost mit einer Geschwindigkeit von sechs Metern in der Sekunde bläst. Sobald er abgehoben hat, sieht er den Eiffelturm aus dem Dunst über dem Champs de Mars aufragen. Alberto hat in den letzten drei Jahren beachtliche Fortschritte gemacht und kann jetzt sein Glück versuchen. Offiziell hat der Start um 14.42 Uhr stattgefunden, und er fliegt ruhig weiter, wohl wissend, dass sich unten an den Seine-Ufern eine Menschenmenge ansammelt, die winkend und applaudierend zusieht, wie das Luftschiff auf das riesige Eisenbauwerk zusteuert.
Er steigt von zehn auf 150 Meter Höhe, der Motor macht gut mit. Merkwürdig, auf der ganzen Flugstrecke bis zum Eiffelturm macht er sich nicht ein einziges Mal die Mühe, einen Blick auf die Dächer von Paris zu werfen; er schwebt dort oben und sieht nichts außer seinem Ziel: den Turm zu umrunden und innerhalb der gesetzten Frist zurückzukehren.
Den Steuerbefehlen entsprechend setzt die Nr. 6 zur Umkreisung des Eiffelturms an. Die Bögen und Verbindungsstreben des Turms bieten aus dieser privilegierten Perspektive einen eindrucksvollen Anblick. Er kann das komplizierte Spitzenwerk, das Schmiedeeisen, die von dem feuchten Pariser Klima schon Rost ansetzenden Nieten deutlich erkennen.
Die Jurymitglieder warten im Aéro Club auf ihn, und jetzt ist er mit voller Antriebskraft auf dem Rückweg, er fliegt über die Seine in Richtung Longchamp. Ein paar träge dahinziehende Wolken geben die Sonne frei, und ihre Strahlen breiten sich bleich über der
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