Der Fliegende Holländer
Tag. Da passierte es. Irgendwo im Äther, durch den unsichtbar die Faxe sausten, wurde die dunkle Ahnung geboren, daß sich für die National Lombard Bank etwas unsagbar Schreckliches zusammenbraute. Niemand wußte, woher das Gerücht kam, aber derartige Fälle von Jungfernzeugung sind im Banken- und Börsenviertel so alltäglich, daß sich sowieso niemand die Mühe macht, einer Sache auf den Grund zu gehen. Man braucht sich nur bei jemandem zu erkundigen, der seit Einführung der neuen Technologien etwas mit den Börsenmärkten zu tun hat, und er wird einem erklären, daß alle derartigen Gerüchte von einem einzigen kleinen Mann stammen, der in einem ausgebauten Eisenbahnwagen in Alaska wohnt und sie telefonisch an die Zeitungsverkäufer der Liverpool Street Station weiterleitet. Das mag zwar nicht wahr sein, aber eine solche Erklärung bildet zumindest so etwas wie einen dringend benötigten Mittelpunkt, um den sich die Empörung aller Beteiligten drehen kann.
Nachdem das Gerücht erst einmal entstanden war, weitete es sich aus. Natürlich glaubte niemand auch nur ein Wort davon – das tut nie jemand –, doch als Hüter des Vertrauens unzähliger Kleinaktionäre empfand man es als seine Pflicht, sämtliche Preise um so viele Millionen Pfund wie möglich zu drücken. Und so geriet der ganze Prozeß unausweichlich in Bewegung. Innerhalb derselben kurzen Zeit, die eine von Glasfasern beflügelte Nachricht zum Überqueren des Atlantiks braucht, erreichte das Gerücht New York, und von dort breitete es sich schneller als Licht und um einiges schneller als Gedanken bis nach Tokio, Hongkong, Sydney, Paris, Genf und bis in sämtliche Finanzmetropolen der Welt aus. Seine Entwicklung und Verbreitung waren so schnell, daß es schon zwei Stunden nach der unbefleckten Empfängnis die Preise auf dem Termingeschäftsmarkt für Rentiere in Lappland ins Bodenlose drückte und Börsenspekulanten auf den Salomoninseln dazu veranlaßte, aus dem Geschäft mit Kaurischnecken auszusteigen.
Gerald warf erneut einen langen feindseligen Blick auf den Bildschirm, kratzte sich mit dem linken Zeigefinger am Ohr und entschloß sich zu einem frühen Mittagessen. Der Dollar, sagte er sich, tat das alles nur, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn er ihn einfach nicht beachtete, dann würde der Dollar bestimmt aufhören, verrückt zu spielen, und sich wieder normalisieren. Das war vielleicht nicht unbedingt die Ansicht, die Wirtschaftswissenschaftler wie Keynes oder Adam Smith vertreten hätten, aber sie machte fast genausoviel Sinn wie alles andere auch. Als Gedankenstütze für seine Rückkehr kritzelte Gerald rasch ›Verkaufen!‹ auf den Notizblock, nahm seinen elektronischen Terminplaner und trottete in Richtung Weinkeller davon.
»Alle Zeit der Welt«, fluchte Vanderdecker durch dicht wie Mauerwerk zusammengebissene Zähne vor sich hin. »Wir haben alle Zeit der Welt, also bloß nicht gleich wegen eines kleinen Windstoßes auf der Nordsee an die Decke gehen.«
Der durch das zerfetzte Tuch des Großsegels heulende Sturm war so laut, daß sich Vanderdecker gezwungen sah, vom relativ leise geführten Selbstgespräch in ein lautes Brüllen überzugehen. Rings um die Verdomde erhoben sich turmhohe Wellen, die im nächsten Augenblick wieder zusammenstürzten wie in einer dieser Zeitrafferdarstellungen, in denen man eine Rosenknospe entstehen, aufblühen und verwelken sieht. Der Regen peitschte Vanderdecker inzwischen fast waagerecht in die Augen. Er hätte also auch dann nichts gesehen, wenn es nicht sowieso schon dunkel wie um Mitternacht gewesen wäre. »Gar nichts Ungewöhnliches!« schrie er seinem Unterbewußtsein zur Beruhigung zu. »Ganz normales Geschäftsrisiko. Leichter Gewittersturm mit elektrischen Entladungen über der Nordsee.«
Aus den noch funktionierenden Augenwinkeln heraus bemerkte Vanderdecker etwas und lugte unter dem nur unzureichend Schutz bietenden Bierfaß hervor. »Sebastian!« brüllte er. »Hör sofort auf! Das ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort!«
Kaum hatte der erste Blitz den Himmel zerrissen, war Sebastian mit einem großen Eisenerzklumpen an Deck gestürmt. Er hatte ihn eigens für Gewitter aufbewahrt. Zwar war es dem magnetischen Klumpen bisher noch nie gelungen, auch nur ein einziges Volt aus dem Himmel anzuziehen, aber schließlich gibt es immer ein erstes Mal. Bis zu einem gewissen Grad bewunderte Vanderdecker den Einfallsreichtum dieses Mannes, von seiner Hartnäckigkeit ganz zu
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