Der Fliegenpalast
Schenken verkehrte, hatte gemeint, dieser Kunstmaler Hitler werde noch einmal von sich reden machen. Nachts, wenn einer ihm einen Schoppen oder eine Suppe bezahlte, halte er die wildesten politischen Ansprachen, und viele von den Elenden hingen dann an seinen Lippen. Jetzt schreibt er also ein Buch, las H. in der
Presse
.
Ein Eisenbahnerstreik in der Steiermark. Er blätterte um. Der neu ernannte Einsparungskommissar Dr. Hornik soll vierzigtausend Beamte der ehemals kaiserlichen Militärbürokratie
liquidiert
haben, weitere sechzigtausend Staatsbeamte sollen mit Zustimmung der Personalvertretung
abgebaut
werden … Sieben Millionen Kilogramm Akten als Altpapier verkauft … Noch in diesem Jahr würde der Geldumtausch erfolgen: Zehntausend Inflationskronen gegen einen Schilling, den sie in Wien schon Alpendollar nennen. Er begann den Aufsatz eines Franzosen über den zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns zu lesen, über die Verstimmung hinweg, welche die Erinnerung an den Sommer neunzehnhundertvierzehn sofort in ihm weckte. Mehr noch verstimmten ihn die Assoziationen, die der Name des Autors auslöste: André Germain.
Welchen Weg haben wir seit dem 1. August 1914 dem Frieden oder dem Krieg entgegen zurückgelegt? Worin besteht unser Fortschritt oder unser Rückschritt oder zumindest unser Stehenbleiben?
Germain erwähnte den Völkerbund:
Ich möchte mich keineswegs den Optimisten anschließen, die an die mystische (und so verworrene) Beschwörungsformel des Völkerbundes glauben, der das goldene Zeitalter bringen wird
… Dem Carl würde das nicht gefallen, dachte er. Dann über die Wiederherstellung der Bayreuther Festspiele:
Ein Tübinger Professor will Richard Wagner zum Führer der deutschen Art, gegen Judentum und Amerikanisierung ernennen
…
ER WAR eine Weile in der Kirche gesessen. Im August, fiel ihm ein, war er mit seinen Eltern meistens nicht in der Fusch gewesen; den August hatten sie meistens am Wolfgangsee verbracht. Der Vater freilich war jedes Mal früher nach Wien zurückgekehrt, es war ihm nicht möglich gewesen, sechs oder acht Wochen seinen Bankgeschäften fernzubleiben.
Jene Jahre … der Geburtstag des Kaisers, die Feierlichkeiten in Bad Ischl … (Einmal waren sie an diesem Tag in der Fusch gewesen, also doch: damals, als die Mutter vor der Abreise erkrankt war und sie den Aufenthalt verlängern mußten.) Diese unbeschwerten Wochen am Wolfgangsee! Tennis, Segeln, Schwimmen … Was für weite Strekken er mit seinen Freunden zu Fuß zurückgelegt hatte … Er erinnerte sich an einen Nachmittag, an dem er mit der Michi Bebenburg, mit Edgar und seiner Schwester Lorle in Strobl zur Überfuhr gewandert war, wo sie sich hatten übersetzen lassen nach Sankt Wolfgang. Er hatte dem Edgar den Michael-Pacher-Altar zeigen, ihn aber auch selber wieder sehen wollen; man konnte ihn ja nicht oft genug sehen. Und dann abends um den halben See herum die weite Strecke zu Fuß nach Strobl zurück.
Heute oder morgen würde er die Gerty in Aussee anrufen und ihr den Tag seiner Abreise sagen.
Er hoffte auf eine weitere Begegnung mit dem Doktor Krakauer. Der Portier hatte ihm gesagt, daß die Baronin Trattnigg mindestens noch eine Woche in Bad Fusch bleiben werde.
Er stand auf der steinernen Plattform vor der Kirche. Seltsam, es regnete leicht, hauchdünne Fäden. Vorhin hatte doch die Sonne geschienen, es war warm gewesen, er hatte sich seinen Rock übergehängt. Als er zum Brunnen hinunterstieg, fiel ihm auf, daß dieser umwachsen war von riesigen Huflattichblättern; alles war feucht, der Weg aufgeweicht, als habe es tagelang geregnet. Das Wasser im Trog erschien grün von all dem Moos, das sich innen an den Wänden gebildet hatte. Es war ihm noch nie aufgefallen, dass die Blätter so riesig waren. Auch der Wasserdruck des Brunnens schien seit dem Vormittag stärker geworden zu sein. Er hatte vergessen, den Portier zu fragen, weshalb man das Hotel beflaggt habe. Der Kaiser – ein dummer Reflex. Selbst wenn der Kaiser noch lebte, es wären ja noch elf Tage bis zu seinem Geburtstag.
AUF DER Wasseroberfläche im Brunnentrog sah er, als er sich darüberbeugte, gebrochen durch Wellen und Kreise, sein Gesicht. Und er dachte, heut seh ich jung aus und wie vom Fernand Khnopff gezeichnet oder gemalt.
Wie lange war das her? Ein ganzes Leben, kam ihm vor. Die Lisl Nicolics hatte ihm eine Karte in die Fusch geschickt, mit einem Frauenporträt von Khnopff auf der Vorderseite. Damals, als er vergessen hatte, für die Eltern
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