Der Flirt
herum war Platz, viel Platz. Platz zwischen Objekten und Menschen, zwischen Informationen und Bildern, ein luxuriöses Gefühl von Perspektive, das ihr in ihrem Alltagsleben fehlte. Sie nahm sich Zeit, schlenderte umher, bildete sich eine Meinung und spürte das sanfte Wogen der Energie, als ihr Geist sich mit etwas Neuem befasste, etwas, was jenseits ihrer beengten
Existenz lag. Sie war entspannt, fühlte sich angeregt und a nonym.
Und da war noch etwas, noch eine Eigenschaft, die sich ihr entzog …
Dann fiel es ihr ein.
In ihrem Traum war sie Single.
Nicht nur Single, sondern kinderlos; frei und ungebunden streifte sie durch die Welt, ohne Listen, ohne Handy, ohne dass irgendjemand drängelte und an ihr zerrte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Ihr Herz schlug schneller, Schuldgefühle überschwemmten sie. Doch ihre Phantasie machte trotzdem weiter Sprünge.
Sie, dieses neue, alleinstehende Ich, verließ gut gelaunt die Galerie und nahm den Bus nach Hause.
Sie konnte die entzückende kleine Wohnung sehen, in der sie wohnte, irgendwo in der Nähe des Kanals in Little Venice. Eine winzige, helle Küche, gerade recht für eine Person und immer sauber … das Wohnzimmer, wo sich eine Katze auf dem Sitzkissen eines alten Sessels zusammengerollt hat und in einem Quadrat Sonnenschein badet … ein unverhohlen romantisches Schlafzimmer, mit blumenbedruckten Stoffen und unzähligen weichen Kissen ausgestattet … Vor ihr entfaltete sich ein ganzes Leben, eine friedvolle, ruhige, gemächliche Existenz.
Plötzlich bekam sie Angst.
Wünschte sie sich wirklich eine Katze und eine saubere Küche? Sie hatte so hart und so lange für ihr schmutziges Haus in South London, ihren übellaunigen Ehemann und eine Horde Kinder gekämpft.
Sie fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und rieb sich die Augen.
Hormone. Das waren nur die Hormone.
Sie stand auf. Wenn sie unbedingt in diese Ausstellung
wollte, würde sie Jonathan bitten, sie zu begleiten. Sie konnten leicht einen Babysitter buchen und auswärts zu Mittag essen.
Und dann setzte sie sich rasch wieder. Ihr Herz zog sich zusammen. Ihr war übel.
Das war genau das, was sie nicht wollte.
Sehr widerwillig grub sie ein Körnchen Wahrheit aus, das sie lieber begraben gelassen hätte.
Es war nicht nur, dass Jonathan sich nichts aus bildender Kunst machte. Oder dass Freizeit so hoch im Kurs stand, dass er so etwas als Vergeudung betrachtete. Der Gedanke daran, ihn bei Laune halten zu müssen, besonders fröhlich und überschäumend zu sein, um seinen Anfall von schlechter Laune zu überstehen, und ihm Kunst zwangsweise näherzubringen, war schier unerträglich. Im Traum war sie allein und frei umhergegangen. Jonathan, der Mann, den sie mit der zielstrebigen Leidenschaft einer Besessenen gejagt, gewonnen und geheiratet hatte, würde ihr den Tag verderben.
In diesem Augenblick dämmerte ihr der ganze Horror ihrer Situation.
Sie war mit einem Mann verheiratet, den sie nicht mit in die Royal Academy nehmen konnte.
Dann tauchte eine weitere unerwünschte Wahrheit auf und drängte sich mit solcher Macht in ihr Bewusstsein, dass sie glaubte, sie würde daran ersticken.
Sie war einsam.
Unglaublich, unbeschreiblich einsam.
Amy Mortimer legte sich − auch wenn sie nicht wusste, wie sie je wieder hochkommen sollte − aufs Bett und lauschte dem Lärm ihrer Kinder, die zu einem Spaziergang im Park zusammengescheucht wurden. Sie war bereits überflüssig. Eines Tages in nicht allzu großer Ferne würden sie sie verlassen.
Sie würden zur Schule gehen und aufwachsen und Freundinnen haben, die sie hassen würde. Und sie würde allein mit Jonathan zurückbleiben. Sie hatte einen Fehler gemacht; einen schrecklichen Fehler! Sie drückte das Gesicht ins Kissen und weinte, erstaunt über ihre Dummheit. Wie hatte sie so naiv sein können, so verblendet und so schrecklich desinformiert? Wie, um alles in der Welt, war sie bloß auf die Idee gekommen, es würde sie glücklich machen, wenn sie diesen reizbaren, übergewichtigen Mann dazu zwingen würde, sie zu heiraten und in diesem vollgestopften, schäbigen Haus ein Kind nach dem anderen in die Welt zu setzen?
Die ganze Zeit hatte sie sich eine Katze und eine saubere Küche gewünscht und hatte es nicht einmal gewusst!
Es klingelte an der Tür.
»Oh, verpiss dich!«, knurrte sie.
Doch als es noch einmal klingelte, hievte sie sich hoch, nahm ein Taschentuch und schnäuzte sich.
Dann machte sie sich an den langen Abstieg zur
Weitere Kostenlose Bücher