Der Flirt
Bedeutung zu schaffen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, diese Frau von sich selbst zu befreien. Sie von dem Geheimnis zu befreien, das sie so fest im Griff hatte.
War es möglich, dass etwas so Flüchtiges wie ein Flirt eine so gewaltige Aufgabe vollbringen konnte? Konnte eine Frau dazu verführt werden, eine freiere, wagemutigere Version von sich selbst zu leben?
Sie war sich nicht sicher. Und es würde nicht leicht werden, sie würde Hilfe brauchen, Inspiration.
Doch eines war sicher: Die fragile Zukunft von Olivia Bourgalt du Coudray ruhte fest in ihren alten, sehnigen Händen.
Tropf, tropf, tropf
»Und?« Leticia schaute Sam über die Schulter, der mit einer Taschenlampe die Rohre unter den Fußbodendielen im Badezimmer untersuchte. »Was ist es?«
»Ein Leck.«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun« - er sah zu ihr auf -, »witzigerweise ist es dasselbe Leck, um das ich mich schon einmal gekümmert habe, nur ist es jetzt schlimmer.« Er setzte sich auf die Fersen und wischte sich die Hände an einem Lumpen ab. Ein Zweitagebart beschattete sein Kinn; seine Haare, die unbedingt hätten geschnitten werden müssen, fielen fast bis auf die Schultern. Er hatte doppelte Schicht gemacht und tagsüber bei Privatkunden gearbeitet und nachts in einer neuen Luxus-Wohnanlage in Willesden Badezimmer und Küchen installiert. Alles, wonach er sich im Augenblick sehnte, war eine Tasse starken Tees. Nicht dass es wahrscheinlich war, dass er hier eine bekam. »Was haben Sie denn gedacht, was passieren würde? Dass es sich einfach selbst repariert?«
»Sie müssen nicht gleich grob werden.«
»Ich bin nicht grob, nur realistisch.« Er kramte in seiner Tasche herum, doch er konnte kaum etwas sehen. »Wäre es wohl möglich, das Licht hier einzuschalten?«
»Heute nicht.« Sie blickte angestrengt zu Boden. »Kein Strom.«
»Wenn Sie einen guten Elektriker brauchen …«
»Nein, ich brauche keinen guten Elektriker!« Wie demütigend! »Es hat mit … mit der Rechnung zu tun.«
»Verrechnet?«
»Nicht bezahlt«, murmelte sie.
»Ah.« Er verzog das Gesicht. »Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass das nicht gerade das ist, was ein Handwerker gerne hört.« Er holte seine Taschenlampe wieder heraus. »Das Beste, was ich im Augenblick tun kann, ist, die Hauptleitung abzudrehen. Ich nehme nicht an, dass Sie wissen, wo der Absperrhahn ist?«
Sie starrte ihn ausdruckslos an.
»Nein? Dachte ich mir schon.«
Sein Rücken schmerzte, als er aufstand. Zu viel Zeit zusammengekrümmt an engen Orten verbracht. Er eilte in das Schneideratelier.
Leticia trabte hinter ihm her.
»Und was haben Sie vor?« Sie klang wie ein Kind.
»Es reparieren.« Er schaute unter die Spüle.
»Aber … verstehen Sie …« Wie sollte sie das bloß formulieren. »Ich habe eine kleine finanzielle Krise. Nur vorübergehend, aber trotzdem …«
»Verkaufen Sie eben ein paar Schlüpfer mehr.«
»So einfach ist das nicht.«
Er schaute sich um. »Warum nicht?«
»Also, erstens«, erklärte sie ihm hochnäsig, »sind sie maßgeschneidert. Je nach Entwurf dauerte die Herstellung Tage.«
»Das ist nicht sehr clever, oder?«
Sie machte große Augen. Wer war diese Person?
»Um clever geht’s hier nicht!«
Er fand den Absperrhahn in dem Schrank mit dem Boiler. »Im Geschäftsleben geht es nur darum, clever zu sein. Sie sollten in Kommission arbeiten. Oder Ihre Sachen an eine der großen Ladenketten verkaufen.«
»Ich bin Designerin, keine Geschäftsfrau«, fuhr sie ihm über den Mund.
»Das sieht man. Schauen Sie, wie Sie Ihr Geld verdienen oder nicht, geht mich nichts an. Aber wegen diesem Leck müssen Sie etwas unternehmen, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Ich kann es machen, es kann aber auch jemand anders machen, das ist mir egal. Aber es muss gemacht werden. Und ich werde gerne für meine Arbeit bezahlt. In der Hinsicht bin ich witzig. Also« - er drehte den Hahn zu -, »ich schlage vor, Sie denken darüber nach und sagen mir Bescheid.« Er wandte sich um und ließ seinen Schraubenschlüssel von Finger zu Finger tanzen. »Aber von jetzt an haben Sie kein Wasser.«
»Das ist Erpressung!«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Erpressung? Ich erspare Ihnen ein Vermögen, was weitere Schäden betrifft! Aber gut!« Er wandte sich wieder dem Hahn zu. »Wenn Sie morgen in einen Laden kommen wollen, der komplett unter Wasser steht, bitte.«
Leticia malte sich aus, ihre wunderbaren Möbel würden im dreckigen Londoner Wasser schwimmen und ihre delikaten
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