Der Flirt
sein. Zu flirten, um zu verführen, Intimität herzustellen, eine Romanze zu beginnen, das war eine Sache. Doch zu flirten und dann wegzugehen, und das immer und immer wieder, sechs, sieben Mal am Tag, erforderte eine ganz andere Sensibilität.
Manchmal überlegte Flick, wer einsamer war − die Frauen, mit denen die jungen Männer flirteten, oder die jungen Männer?
Und was war dann mit ihr, die in diesem Netz sensibler menschlicher Transaktionen saß? Trugen sie wirklich dazu bei, die Kluft zu überbrücken, die viele Paare trennte, oder lenkten sie sie in Wirklichkeit nur ab, indem sie dem weinenden Kind einen schimmernden Gegenstand vor der Nase baumeln ließen, damit seine Tränen versiegten?
Sie ließ den Blick durch ihr Büro schweifen − über die Aktenschränke aus Holz, die vollgestopften Bücherregale,
den Tisch mit den sich stapelnden Kundenakten und schließlich über den Rücken ihrer Hände, die die Zeitungsschnipsel hielten.
Es war nicht zu leugnen: Es waren die Hände einer älteren Frau, faltig und abgearbeitet. Keine noch so große Menge Handcreme würde die Zeit aufhalten.
»Du wirst zynisch, altes Mädchen«, sagte sie laut. »Vergiss nicht, es ist nur ein Job.«
Dann weckte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie griff nach einem Foto und betrachtete es eingehend.
Nein, das bildete sie sich nicht nur ein: In Olivias Augen lag eine unmissverständliche Traurigkeit, eine Art hilflose Resignation.
Traurigkeit?
Flick suchte noch ein paar Ausschnitte jüngeren Datums heraus und legte sie nebeneinander.
Da war es − dieselbe Hoffnungslosigkeit, die ihr zuerst entgangen war, die ihr jetzt jedoch sofort aus allen Bildern entgegensprang.
Weshalb war Olivia Bourgalt du Coudray so unglücklich? Ihr Leben war wunderbar! Flick konzentrierte sich noch mehr.
Sie betrachtete erneut Olivias sauberes, gut frisiertes, blondes Haar, ihre gepflegte, hübsche Figur, die eleganten, makellosen Kleider. Dann fiel ihr ihr Lächeln auf; die zusammengebissenen Zähne, die Spannung, die um den ganzen Kieferbogen herumlief und mit der sie die hinteren Backenzähne aufeinanderpresste. Sie spürte förmlich die Willenskraft, die Olivia zusammenhielt; ein zähes, kaltes Entsetzen, sich in irgendeiner Weise bloßzustellen.
Flick lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und legte unter dem Kinn die Hände zusammen.
Wovor hatte sie solche Angst?
Plötzlich begriff sie. »Sie hat ein Geheimnis!«
Aber was für eines?
Einen Geliebten?
Eine Sucht?
Ein Kind?
Noch einmal musterte sie Olivias Gesicht und suchte nach Hinweisen.
Sie blickte in die verängstigten Augen einer der reichsten Frauen der Welt und entdeckte etwas, was sie aus ihrer eigenen bescheidenen Kindheit kannte: Olivia schämte sich.
Als gute irische Katholikin war Flick mit Scham aufgewachsen. Fast wie eine Gurke, die in Essig und Gewürzen eingelegt ist. Sie wusste, wie es war, so vollkommen davon durchtränkt zu sein, dass es fast unmöglich war, zu sagen, wo man selbst aufhörte und das Schuldgefühl begann. Ihre Kindheit war geprägt gewesen von großen, starken, kreativen Frauen, die alle so getan hatten, als wären sie klein, freundlich und unkompliziert − voller Angst, was passieren würde, wenn sie sich gehenließen. Und es war Scham, die diese Angst so wirkungsvoll begleitet hatte, dass sie sie fesselte wie ein Korsett. Scham, stark zu sein, Scham, interessant zu sein, Scham darüber, ein Mensch zu sein. Schon als kleines Mädchen war ihr das ein frustrierendes Rätsel gewesen, doch jetzt machte es sie wütend.
Dann dachte Flick an die vielen schmerzvollen Jahre, in denen sie sich glaubhaft als entschärfte Version ihrer selbst ausgegeben hatte, und wie leer ihr alles vorgekommen war − selbst, oder vielleicht besonders, während ihrer Ehe. Sie hatte sich immer eingeredet, eines nicht allzu fernen Tages, wenn es ihr mit ihr selbst besser ginge, wenn sie sich wohler mit sich fühlen würde, könne sie mit ihrem Mann ein wenig freier sein, ein bisschen mehr bereit, ihm zu zeigen, wer sie eigentlich war. Doch er war gestorben, bevor sie gewagt
hatte, es zu versuchen. In Wirklichkeit hatte sie sich selbst erst in ihrer Einsamkeit und durch ihre seltsame Freundschaft mit Valentine überhaupt kennengelernt.
Was für eine Vergeudung!
Flick war nie besonders ehrgeizig gewesen, hatte nie große Träume gehabt, die Welt zu erobern. Doch hier, in der Stille der Half Moon Street Nummer 111, sah sie eine Gelegenheit, etwas von wahrer und anhaltender
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