Der Fluch Der Bösen Tat
zogen den darin liegenden Brief hervor. Der Schmerz in ihrer Kehle wurde stärker. Wie eifrig sie den Umschlag beim ersten Mal aufgerissen hatte, vor all den Jahren. Wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, endlich den Inhalt zu lesen, jedes Wort darin als ein Wort der Liebe und Hingabe zu interpretieren und seinen beiläufigen Versicherungen zu glauben, dass sie das einzige Mädchen war, das er liebte. In ihren Augen waren diese oberflächlichen Bemühungen gleichbedeutend gewesen mit den großen Liebesbriefen der Geschichte.
»Wie dumm! Wie unendlich dumm!«, flüsterte sie.
Nicht dumm, nein, jedenfalls nicht damals. Nur naiv und verliebt und voller Sehnsucht nach etwas, von dem sie sich selbst eingeredet hatte, dass es real war. Seit langer Zeit inzwischen las sie die Worte als das, was sie in Wirklichkeit waren, spontane Erklärungen, inspiriert von Hormonen, nicht Liebe. Die Worte eines jungen Mannes, der im Herzen noch ein Junge war und in der Welt eines Mannes leben wollte, ohne auf die Freiheiten der Jugend zu verzichten, ohne die Verantwortung zu akzeptieren, die mit der Welt eines Mannes einherging. Und noch dazu ein junger Mann mit großen charakterlichen Fehlern. Selbstsüchtig und verzogen.
Im Leben gibt es immer die, die nehmen, und die, die geben, hatte ihre Mutter früher einmal gesagt. Die verstorbene Mrs. Pattinson war von einem gewissen Zynismus erfüllt gewesen, vielleicht durch die langen Jahre an der Seite eines Ehemannes, der weltlichen Dingen entsagt und bis zum Schluss versucht hatte, in seiner unverbesserlichen Schar Anbefohlener nur das Beste zu sehen. Ruth wusste, dass ihre Mutter Recht gehabt hatte mit diesen Worten. Ruth war eine von denen gewesen, die gegeben hatten, doch er, o ja, er war ein Nehmer gewesen, so viel stand fest.
Ruth schob den Brief in den Umschlag zurück und legte ihn auf einen Stapel mit den anderen. Sie konnte die Briefe nicht im Haus verbrennen – möglicherweise kam Hester herein und beobachtete ihr Tun. Hester würde es verstehen, sicher, doch sie wollte nicht, dass Hester etwas davon erfuhr. Sie würde die Briefe draußen im Garten verbrennen. Der Boden war nass, doch das spielte keine Rolle – die paar Blätter Papier benötigten kaum mehr als ein Streichholz, um von Flammen verzehrt zu werden.
Ruth schlich an der Küche vorbei. Von drinnen kam das Geräusch eines Kochlöffels, der in einer Schüssel kratzte. Hester summte leise vor sich hin. Ruth ging zur Vordertür hinaus, an der Seite des Hauses entlang nach hinten und huschte über den Gartenpfad wie eine Diebin auf ihrem eigenen Grund und Boden. Hinter der Ligusterhecke machte sie sich an die Arbeit. Es war nicht so leicht, wie sie geglaubt hatte. Ein Streichholz an einer Ecke eines Umschlags hatte lediglich zur Folge, dass das Papier anfing zu glimmen, sich braun verfärbte – und dass die Flamme dann wieder erlosch. Sie musste die Briefe aus ihren Umschlägen nehmen. Das erste Blatt, das sie auf diese Weise anzündete, wurde zu ihrem Schrecken vom Wind gepackt und noch immer brennend in die Luft getragen, um in Richtung Haus zu segeln.
»Verdammt!«, schimpfte Ruth laut.
Jedes Blatt musste einzeln zerknittert und auf einen Haufen gelegt werden, damit es nicht wegfliegen konnte. Sie stapelte alles auf, und schließlich gelang es ihr, die alten Briefe in Brand zu stecken. Das Feuer brannte zufrieden stellend, auch wenn vereinzelt schwarze Flocken davonsegelten, die ihr heimliches Tun hinter der Hecke verrieten. Sie hoffte inbrünstig, dass Hester beim Kochen nicht aus dem Fenster sah.
Hester sah nicht aus dem Fenster, doch jemand anders. Jemand, den sie völlig vergessen hatte.
»Was machen Sie da?« Die Stimme erklang dicht hinter ihr. Ruth zuckte zusammen, stieß einen leisen Schreckenslaut aus und wirbelte herum. Eine massige Gestalt in einem gefütterten Nylonmantel und bügelfreien Hosen stand vor ihr und beobachtete sie. Dilys Twelvetrees, eine mittelalte weibliche Ausgabe von Old Billy. Ihr breites Gesicht, normalerweise bar jeglichen Ausdrucks, leuchtete förmlich vor Neugier.
»Abfall verbrennen«, sagte Ruth erzwungen ruhig. Der Ausdruck auf Dilys Twelvetrees’ Gesicht verwandelte sich von neugierig in kühn.
»Sie verbrennen alte Briefe«, sagte sie. Ruth wollte sie angiften, dass es nicht ihre Angelegenheit wäre. Stattdessen murmelte sie:
»Alte Rechnungen und Geschäftsunterlagen.« Es war eine erbärmliche Ausrede, und Dilys fiel nicht eine Sekunde lang darauf herein. Sie
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