Der Fluch der Maorifrau
Tuberkulose?«, fragte Emma spitz.
»Doch, schon, daran ist sie gestorben, doch sie litt auch unter Schwermut. Heute nennt man das wohl Geburtsdepression. Sie hat dich gar nicht beachtet und konnte nicht für dich sorgen. Nach dem Tod deines Vaters redete sie nicht mehr, sondern lag nur noch apathisch im Bett. Sie wollte nicht sprechen, nicht essen, nicht trinken. Sie wäre verhungert, wenn ich meine Einwilligung verweigert hätte, sie in eine Heilanstalt einzuweisen. Der Arzt hielt das für unumgänglich. Ich hatte auch nicht mehr die Kraft, dich und sie zu versorgen. Heute würde man sie bestimmt heilen können, aber damals? Ich habe sie jede Woche besucht, aber sie hat mich nicht ein einziges Mal angesehen, sondern nur gegen die Wand gestarrt!«
»Und warum hast du mich nicht mitgenommen?«
»Ach, Kleines, ich wollte dir das ersparen. Du warst so ein fröhliches Kind, und der Gang in dieses Irrenhaus kostete mich jedes Mal ungeheure Überwindung.«
Emma war hin und her gerissen. Einerseits war sie überzeugt davon, dass Kate immer nur das Beste für sie gewollt hatte, andererseits fühlte sie sich betrogen.
»Ich kann dich ja verstehen, doch du musst mir versprechen, dass du mir nie wieder etwas verheimlichst! Bitte! Auch nicht, wenn du glaubst, mich vor etwas schützen zu müssen!«
Kate holte tief Luft. »Versprochen!«, sagte sie, aber in ihren Augen flackerte es verräterisch.
Soll ich ihr auf den Kopf zusagen, dass ich ihr nicht glaube? Dass sie wahrscheinlich noch mehr Geheimnisse vor mir verbirgt?, dachte Emma. Sie beschloss, es gut sein zu lassen, denn Kate hatte sich nun demonstrativ ihrer Lektüre, einem Kunstbuch, zugewandt.
Und auch Emma wollte sich die Laune nicht verderben lassen. Schließlich stand morgen ein Fest bevor. Deshalb waren sie dieses Wochenende auch nicht nach Pakeha hinausgefahren, sondern in der Princes Street geblieben. Was war für eine Party anlässlich ihres einundzwanzigsten Geburtstages auch besser geeignet als der große Salon? Er war ganz im Art-deco-Stil eingerichtet. An den Wänden hingen hohe Spiegel und einige von Großmutters schönsten Bildern. Emma hätte den Salon gern ein wenig moderner eingerichtet, aber in diesem Punkt war mit ihrer Großmutter nicht zu reden. »Die heutige Jugend hat doch keine Ahnung von Stilfragen«, pflegte Kate stets zu sagen. »Ich habe viel Mühe darauf verwendet, ihn zu diesem Prachtstück zu machen!«
Seufzend griff sich Emma die Otago Daily Times, bei der sie volontierte.
»Was sagen sie in der Redaktion eigentlich dazu, wenn du in diesen entsetzlichen Hosen auftauchst? Und mit diesem Taschentuch um den Hals?«, fragte Kate nun und betrachtete ihre Enkelin kritisch über den Rand ihrer Brille hinweg.
Sie will vom Thema ablenken!, ging es Emma durch den Kopf. »Die Jüngeren kommen alle in Siebenachtelhosen und Nickituch! Du bist altmodisch, Großmama. Alle Mädchen tragen Hosen.«
Kate runzelte die Stirn.
Emma wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit Kate darüber zu diskutieren. Nicht einmal im Strandhaus trug sie Hosen, sondern eines ihrer taillierten Kostüme, die einem Modeheft der Vierziger entsprungen schienen. Ihre Freundinnen hingegen bewunderten die Großmutter grenzenlos und beneideten Kate vor allem um das herzliche Verhältnis, das sie beide zueinander hatten.
Herzlich ja, dachte Emma, aber ist es auch offen? Nach dem, was sie eben erlebt hatte, sollte sie vielleicht misstrauischer sein.
Natürlich war sie stolz auf Kate. Wer nannte seine Großmutter schon beim Vornamen? Manche ihrer Freundinnen, allen voran ihre Kollegin Caren, wussten sogar, dass Kate McDowell früher einmal eine stadtbekannte Malerin gewesen war. Außerdem sah Kate blendend aus für ihr Alter. Sie hatte wenig Falten, und ihr ergrautes Haar tönte sie blond. Und man konnte mit ihr wirklich über alles reden. Wirklich über alles?, fragte Emma sich gerade und überlegte, ob sie ihr anvertrauen sollte, dass sie sich verliebt hatte.
Kate würde wahrscheinlich scherzen und behaupten, das habe sie schon oft behauptet, aber dieses Mal war es anders! Kate spürte es genau. Schon weil dieser Harry schätzungsweise fünf, wenn nicht sogar zehn Jahre älter war als sie. Nach seinem Alter gefragt hatte sie ihn noch nicht. Wie auch? Sie hatte ja überhaupt erst wenige Worte mit dem Fremden gesprochen. In der Pause einer Lesung von James K. Baxter, über die Emma in der Zeitung schreiben sollte. Nicht einmal seinen Beruf kannte sie. Trotzdem hatte sie ihn
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