Der Fluch der Maorifrau
Kind in den Armen, bevor sie sich in den Sand fallen ließ. Dort blieb sie wie leblos liegen. »Ka mate. Ka mate«, raunte der Chor der Tätowierten.
Anna konnte sich zunächst keinen Reim auf diese Bilder machen. Während die Maori auf der Erde lag, sprach sie in einer Art Singsang Worte, die wie Beschwörungen klangen. Schließlich sprang Hine vom Boden auf und wiederholte ihr Spiel wie ein Ritual. Anna erschauderte. Allmählich dämmerte ihr, was vor ihren Augen geschah, aber sie wollte es nicht an sich heranlassen. Hine, die Nebelfee, verfluchte Christian und seine Kinder, also auch jenes Kind, ihr Kind, das vielleicht in ihr, Anna, heranwuchs. Der Fluch galt nicht nur Christian, sondern seinen Nachkommen. Das war zu viel für Anna.
Sie wandte den Blick von diesem grausamen Schauspiel ab und robbte auf allen vieren zum Weg zurück. Dieses Mal war es ihr völlig gleichgültig, ob Christian sie sehen würde oder nicht. Und die Krieger würden ihr gewiss nichts anhaben. Anna hatte nur noch einen Gedanken: Wenn ich wirklich ein Kind bekomme, werde ich alles daransetzen, es vor diesen Mächten zu beschützen. Sie würde sich dem Fluch mit aller Macht entgegenstellen. Sie würde kämpfen. Nicht mit Speeren und Gesängen, aber mit der gleichen Kraft, die ein wildes Tier aufbrachte, um sein Junges gegen Feinde zu verteidigen. Als sie außer Sichtweite war, rappelte sie sich auf und rannte davon.
Mein Leben wird Hine jedenfalls nicht zerstören und auch nicht das meiner Kinder und Kindeskinder!, schwor sich Anna Peters. Und mehr noch: Sie beschloss, nie mehr an diesen verdammten Fluch zu denken.
»Du kannst meiner Familie und mir nicht gefährlich werden. Du nicht!«, schrie sie in die Nacht hinaus, und der Sternenhimmel war ihr Zeuge.
Dunedin, 27. Dezember 2007
Es war bereits weit nach Mitternacht, als Sophie die Aufzeichnungen ihrer Mutter aus der Hand legte. Sie war immer noch hellwach und musste sich zwingen, mit dem Lesen aufzuhören. Die Geschichte von Anna und dem Fluch hatte sie vollends in ihren Bann gezogen. Noch sträubte sich etwas in ihr zu akzeptieren, dass es sich nicht um eine fiktive Geschichte handelte, die ihre Mutter so romanhaft zu Papier gebracht hatte, sondern um die ihrer eigenen Familie.
Sophie war so gefesselt von dem Schicksal der jungen Auswanderin, dass sie nicht mehr den geringsten Wunsch verspürte, schnell weiterzublättern, um nach Thomas Holden zu suchen, nein, sie brannte förmlich darauf, zu erfahren, wie es mit Anna weiterging. Nur nicht mehr in dieser Nacht.
Sie legte die Aufzeichnungen sorgfältig auf dem Nachttisch ab. Durch den Schlafmangel, gepaart mit dem Eindruck der Lektüre, hatte sie das Gefühl, dass die Realität ihr immer mehr entglitt. Ob es diesen Fluch wirklich gegeben hat?, fragte sie sich und verwarf den Gedanken sofort. Nein, niemals! Sie glaubte nicht an solchen Quatsch!
Außerdem sollte ich endlich schlafen, ermahnte sie sich. Sie löschte das Licht, doch es half nichts. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Mit einem Mal erinnerte sie sich an David, den Musiker aus London. Es war eine aufregende Zeit gewesen damals, doch Sophie hätte sich niemals auf sein wildes Leben einlassen können. Dabei hatte sie ihn wirklich geliebt. Welche Ironie des Schicksals!, dachte sie. Anna durfte ihre große Liebe, den Musiker, nicht heiraten, und sie, Sophie, hatte ihre große Liebe einfach ziehen lassen.
Wie viele Jahre hatte sie nicht mehr an David gedacht? Fünf oder zehn? Jetzt erinnerte sie sich mit einer Heftigkeit an ihn, als hätten sie sich niemals getrennt. Seine langen schwarzen Locken, seine verschmitzten braunen Augen, seinen melancholischen Zug um den Mund, all das sah sie mit geschlossenen Augen in einer Deutlichkeit vor sich, als sei es erst gestern gewesen. Dazwischen blitzten Bilder von Anna auf, aber sie wirkte nicht mehr so streng wie auf der Daguerrotypie. Nein, sie lächelte ihr zu, aber Annas Augen strahlten immer noch eine tiefe Traurigkeit aus. Mit dem Gedanken an Anna schlief Sophie ein.
Ein Telefonklingeln schreckte Sophie auf. Sie wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Dann sah sie ihr Handy auf dem Nachttisch leuchten. Sie fühlte sie sich wie gerädert. Alles tat ihr weh. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es sechs Uhr morgens war. Wieder klingelte ihr Handy. Sie griff danach.
»Hallo«, meldete sie sich mit verschlafener Stimme.
»Oh, Schatz, entschuldige, habe ich dich geweckt? Ich habe gar nicht an die
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