Der Fluch der Maorifrau
Stadtplan zeigen, wo sie im Zentrum ein Geschäft finden würde, in dem sie sich dem Wetter entsprechend einkleiden konnte.
Draußen herrschten sommerliche Temperaturen, und in dem vollklimatisierten Kaufhaus spielten sie immer noch Jingle Bells, obwohl Weihnachten vorüber war. Inmitten des bunten weihnachtlichen Dekors und der Dauerbeschallung vergaß Sophie für einen Augenblick, wo sie war und was sie hergeführt hatte. Sie ließ sich durch die Damenabteilung treiben, probierte die unterschiedlichsten Sachen an und entschied sich schließlich für drei einfache Kleider mit Spaghettiträgern, einen Cardigan für kühlere Abende, zwei Jeans, diverse Sommertops und ein Paar Sandalen und Turnschuhe.
Mit den Tüten beladen, machte sie sich auf den Rückweg zum Hotel. In einem Straßencafé trank sie einen Cappuccino, was ihr das Gefühl gab, eine ganz normale Touristin zu sein. Menschen aus den unterschiedlichsten Nationen liefen vorbei, viele Weltenbummler mit Rucksäcken und auffallend schöne Menschen, die wie Judith sicher Maoriblut in sich hatten. Die Maori? Viel mehr, als dass es die Ureinwohner Neuseelands waren, wusste Sophie nicht über sie, aber sie nahm sich fest vor, Näheres über sie zu erfahren. Ob der Fluch der Nebelfee wohl wirklich Unglück über Annas Familie bringen wird?, fragte sie sich, um den Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Ein Fluch? So ein Blödsinn!, sagte ihr Verstand.
Von einer Sekunde zur anderen kippte Sophies Stimmung, und sie spürte wieder Wut in sich aufsteigen. Eine Wut auf ihre Mutter, die sie ein Leben lang belogen hatte und ihr die Wahrheit nun wie ein Märchen servierte. Häppchenweise, damit ihre Tochter ja nicht überfordert wurde. Bei dem Gedanken ballte Sophie die Fäuste. Dass Emma ihr von Anna und dem Fluch nichts erzählt hatte, als sie noch ein Kind gewesen war, konnte sie ja verstehen. Aber sie wäre sicher nicht zusammengebrochen, wenn sie die Geschichte ihrer Familie als Erwachsene erfahren hätte.
Jetzt kann ich nicht einmal mehr mit ihr darüber sprechen, dachte Sophie enttäuscht. Ich werde ihre Unterlagen schleunigst auf den Namen Thomas Holden durchsuchen und dem dummen Ratespiel ein Ende machen.
Sophie zahlte und eilte zum Hotel zurück, um ihren Plan umgehend in die Tat umzusetzen. Dort griff sie sich das Manuskript und blätterte es nach dem Namen dieses Mannes durch, aber sie fand ihn nicht. Seufzend legte sie die Blätter aus der Hand. Es war wie verhext. Thomas Holden schien in dieser Geschichte nicht vorzukommen.
Sophie war zu aufgebracht, um an der Stelle weiterzulesen, an der sie am Morgen aufgehört hatte. Ja, sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt bleiben und es zu Ende lesen würde. Vielleicht sollte sie gleich nach der Beerdigung nach Hause fliegen, das Erbe ausschlagen, das Manuskript vernichten und ihre Mutter als die Frau in Erinnerung behalten, als die sie sich zeitlebens ausgegeben hatte: als die Hamburgerin Wortemann!
Dunedin, im Dezember 1863
Anna konnte sich nur schwer vom Anblick ihrer toten Freundin lösen. Wie betäubt stand sie langsam auf.
Die Hebamme, Elisabeth Ginsbury, war völlig erschöpft. Schluchzend bat sie Anna, den Ehemann zu holen. »Ich schaffe das nicht. John McDowell war das erste Baby, das ich je entbunden habe«, schluchzte sie.
Der arme John!, dachte Anna, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ihre rot umränderten Augen sagten jedoch alles.
Im Wohnzimmer lief John McDowell rastlos auf und ab. Als Anna eintrat, erstarrte er. Grau im Gesicht und scheinbar um Jahre gealtert, fragte er gequält: »Sie ist tot, nicht wahr?« Anna nickte stumm.
John McDowell brach in lautes Schluchzen aus und war bereits auf der Treppe nach oben, bevor Anna sich nur umdrehen konnte.
Mit letzter Kraft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie konnte noch immer nicht fassen, was geschehen war. Da ging die Tür auf, und Mabel, das Kindermädchen, erschien im Salon, an der Hand den kleinen Timothy. Sie wusste noch nicht, was geschehen war, weil sie mit dem Kind außer Haus gewesen war. Anna wollte sie gerade bitten, mit dem Jungen noch einen Spaziergang zu machen, als sich Timothy von Mabels Hand losriss, auf Anna zulief und auf ihren Schoß krabbelte.
»Willst du mit zu Tante Anna?«, fragte Anna mit bebender Stimme. »Oh ja!« Der rotblond gelockte Junge schmiegte sich zutraulich an sie.
»Packen Sie bitte ein paar Sachen für das Kind zusammen. Ich nehme es mit nach Hause. Und sagen
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